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Langes Warten auf Torres
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Die Euro ist vorbei – und schon stehen die Fussballhelden wieder  auf Schweizer Rasen: In Interlaken kicken sich seit gestern die  Stars des FC Liverpool fit. Nur die Europameister fehlen.

Der Rasen vor dem Bildungszentrum Interlaken (BZI) im Bödeli liegt da wie immer – er ist grün und durchnässt vom kalten Regen. Nichts deutet darauf hin, dass hier in weniger als einer Stunde an diesem Sonntagabend Weltstars auftauchen werden: Der FC Liverpool wird sich hier während neun Tagen fit kicken. Und das Beste daran: Zum Team gehören auch Torres und drei weitere Europameister. Die Ruhe täuscht denn auch: Hinter dem Absperrgitter gehen einige Herren hektisch auf und ab. Die ersten Zuschauer sichern sich auf der Tribüne einen Platz. Die Mähmaschine dreht ihre Runden.

«Das Gras sei noch zu lang, hat man mir gesagt», sagt Max Lauener. Der grüne Teppich wird deshalb noch einmal frisch frisiert: 23 Millimeter lang muss er sein. «Und zwar haargenau.» Der Hauswart der Sportanlagen ist für die perfekten Trainingsbedingungen verantwortlich. Es gehe hektisch zu und her, so kurz vor der Ankunft der Weltstars. Aber es werde «ein Highlight», sie hautnah zu erleben. Lauener ist einer der wenigen, die Zugang zu den Spielern haben. Sie wollten absolute Ruhe, sagt er. Bereits vorigen Sommer waren die «Reds» in Interlaken im «Lager». Im Luxushotel Victoria-Jungfrau haben sie zwei Etagen bezogen – auch hier leben die laut Lauener «wortkargen» Spieler abgeschottet von der Öffentlichkeit.

Zwei Balljungs melden sich an. Nervös und mit glänzenden Augen. Sie gehören zu den sechs Glücklichen, die den von den Stars aus dem Feld gekickten Bällen nachrennen dürfen. «Ich bin ganz aufgeregt», sagt der 13-jährige Elia von Allmen. Gerrard, Torres, Degen – alle werde er hautnah erleben. In der Schule seien sie ganz neidisch auf ihn. «Vielleicht werde ich sogar mit ihnen reden können!» Vielleicht. Presseinterviews jedenfalls geben die Hünen keine. Fotografen sind nur im Zuschauerraum erlaubt. Nur so habe man dafür sorgen können, dass die englische Presse zu Hause bleibe, sagt ein Betreuer, der nicht genannt werden möchte.

Der Regen wird stärker, die Spieler tauchen plötzlich auf. Helfer verteilen auf dem Rasen rote und weisse Hütchen. Ein Murmeln geht durch die rund 200 Zuschauer, die unter ihren Regenschirmen auf der spärlich besetzten Tribüne stehen. Manch einer nimmt den Feldstecher und beobachtet die Spieler, die in schwarzen Trainingsanzügen im Trockenen stehen und in den Regen starren. «Wo ist Torres?» Das ist die Frage des Abends. Von ihm und den drei weiteren Europameistern fehlt jede Spur. Doch die Spieler sind weit weg. «Wir werden Torres schon noch erblicken», sagt ein Vater zu seinem ungeduldigen Sohn.

Die Kicker starten nun, joggen ruhig im strömenden Regen um den Fussballplatz. Einige lächeln, als sie an den Zuschauern vorbeilaufen. Während die Öffentlichkeit in England ganz von den Trainings ausgeschlossen ist, dürfen die Zuschauer hier in Interlaken immerhin in einer markierten Zone am Rand zuschauen. Und wer Glück hat, ergattert sogar ein Autogramm, wenn die 28 Spieler mit ihren 12 Trainern und Betreuern mit dem Velo im Trainingszentrum ankommen. Interlaken ist stolz auf die prominenten Kicker: Nachdem es nicht gelungen sei, eine Euro-Mannschaft nach Interlaken zu locken, sei das Trainingslager des FC Liverpool «mehr als nur ein Trostpflaster», schrieb die «Jungfrau Zeitung» euphorisch.

Die Fussballstars verteilen sich auf dem Feld, spielen sich ein. Man hört Rufe, Trainer Rafa Benitez schreit der Mannschaft Anweisungen zu. Die Zuschauer harren wie erstarrt im Regen. «Da ist Degen! Der mit den weissen Socken!», ruft ein Mann mit Feldstecher. Immerhin. «Doch wo ist Torres?» Die Europameister sind nicht da. Sie seien in den Ferien, spricht sich herum. Die Enttäuschung ist gross im Bödeli. Und der Regen wird immer stärker.

Text: Manuela Ryter

Dieser Artikel erschien am 14. Juli 2008 im "Bund".

Die innere Uhr gibt den Takt an
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Jeder Mensch hat seine innere Uhr. Stimmt diese wie bei der Nachtarbeit nicht mit der «äusseren» Uhr überein, wird er krank. Noch hat die Wissenschaft keine Lösung gefunden: In Sachen Schichtarbeit steckt die Forschung in den Kinderschuhen, wie eine Tagung zeigt.

Es ist mitten in der Nacht, doch die Lichter in der Fabrik brennen. Die riesigen Maschinen laufen Tag und Nacht, sie abzustellen wäre ökonomisch nicht vertretbar. Die Fabrikangestellten müssen auch in der Nacht an die Arbeit. Auch der Herzkranke im Spital muss während 24 Stunden betreut werden. Flugzeuge landen um Mitternacht, Züge werden nachts gewartet, Zeitungen nachts gedruckt. Über 500000 Menschen in der Schweiz arbeiten, während die anderen in ihren Betten liegen: Sie arbeiten in Schichten und lösen sich ab, damit der Betrieb während 24 Stunden läuft.

Neben sozialen hat dieser unregelmässige Rhythmus auch ökonomische und gesundheitliche Folgen: In der Nacht passieren viel mehr Arbeitsunfälle und Fehler. Viele Betroffene leiden unter Schlafstörungen und Verdauungsproblemen. Und die Wahrscheinlichkeit, dass sie erkranken – etwa an Krebs oder Depressionen – ist um ein Vielfaches grösser als bei Angestellten mit normalen Arbeitszeiten. Der Grund dafür ist das Tageslicht, das ihnen in der Nacht fehlt und sie tagsüber nicht schlafen lässt. Doch weshalb ist Licht für die Gesundheit so wichtig? Welche Rolle spielt es am Arbeitsplatz? Die Tagung «Licht und Nachtarbeit» in Winterthur, organisiert durch das Nationale Forum Nachtarbeit, ging diesen Fragen nach.

Innere Uhr gibt Tagesablauf vor

«Alles hat seine zeitliche Ordnung», sagte Professorin Anna Wirz-Justice, die seit Jahren am Zentrum für Chronobiologie in Basel über die biologischen Rhythmen forscht: «Jedes einzelne Lebewesen hat seine innere Uhr.» Auch der Schlaf-Wach-Zyklus ist synchronisiert: Es ist die innere Uhr, die den Menschen dirigiert und bestimmt, wann Zeit zum Schlafen, Aufwachen, Essen, Verdauen oder Entleeren ist. Mit der Ausschüttung des Hormons Melatonin sorgt sie dafür, dass man abends müde wird, ins Bett geht und einschläft. Und am Morgen gibt sie dem Körper mit Cortisol das Signal, aufzuwachen und wach zu bleiben. Und dies exakt im 24-Stunden-Rhythmus.

Die Sonne richtet die innere Uhr

So perfekt die innere Uhr ist, so tückisch ist sie für die moderne Gesellschaft. Denn sie richtet sich nicht nach Arbeitszeiten oder sozialem Umfeld, sondern in erster Linie nach der Sonne: Melatonin wird mit dem Verschwinden des Tageslichts ausgeschüttet, Cortisol mit dem Hellerwerden. Das führt dazu, dass in den meisten Schlafzimmern der Wecker lange vor der inneren Uhr schrillt. Bei Menschen, die in der Nacht arbeiten, ist die Differenz riesig, was für sie verheerende Folgen hat: Wegen der verkehrten Arbeitszeiten sind sie einem dauernden Jetlag ausgesetzt – ähnlich wie nach einem Flug von Zürich nach New York: «Sie arbeiten, wenn das Hormon Melatonin den Körper auf Schlaf trimmt. Und sie gehen ins Bett, wenn der hohe Cortisolspiegel dafür sorgt, dass sie wach bleiben», sagt Wirz-Justice. Doch während sich der Körper nach einem langen Flug schon nach wenigen Tagen der neuen Aussenzeit anpasse, bleibe die Uhr des Nachtarbeiters verstellt, da kein Licht vorhanden sei, nach dem sich der Körper richten könne: «Der Zeitpunkt der Lichtexposition ist massgebend.»

Die Bedeutung des Lichts als Zeitgeber des Menschen erkläre, weshalb in der Nacht besonders viele Arbeitsunfälle und Fehler passierten. Und auch, weshalb viele Schichtarbeiter nach der Arbeit trotz hohem Schlafdruck unruhig und lediglich vier bis fünf Stunden schlafen könnten. Die Folge davon ist ein chronischer Schlafmangel, da der Körper sich weder nachts noch tagsüber regenerieren kann.

Licht gegen die Müdigkeit

Zwar kann die Sonne am Arbeitsplatz nachgeahmt werden: Intensives Licht in den Arbeitsräumen und spezielle Lichtbehandlungen während der Arbeitspausen werden bereits heute gegen die Müdigkeit der Nachtarbeiter eingesetzt, wie an der Tagung mehrere Fachleute ausführten. Auch Verdunkelungsbrillen für den «Feierabend am Morgen» gibt es, damit der Körper am Morgen auf Schlaf umstellt. Die moderne Lichtgestaltung richtet sich auch mehr und mehr nach den Erkenntnissen der Chronobiologie: Dank Lampen, die das Licht je nach Tageszeit verändern, richtet sich die innere Uhr nach dem künstlichen Licht, das die Nacht für den Körper zum Tag macht, und verschiebt sich nach und nach. Damit könnten Fehler und Unfälle reduziert werden, sagt Wirz-Justice. Das sei gut fürs Unternehmen. Für den Arbeitnehmer allerdings sei auch diese Lösung nicht befriedigend, denn «schon beim nächsten Schichtwechsel kommt er in den nächsten Jetlag».

Schichtarbeit für Nachtmenschen

Die Chronobiologie sieht die Lösung denn auch eher in individuelleren Arbeitszeitmodellen. Denn wie die Forschung der vergangenen Jahre gezeigt hat, ist es angeboren, ob ein Mensch Nachtarbeit erträgt oder nicht: Es gibt frühe und späte «Chronotypen». Auf der einen Seite die Lerchen, die Frühaufsteher, und auf der anderen die Eulen, die Nachtmenschen, die spät einschlafen und spät aufwachen, falls kein Wecker klingelt. Zwar ist die innere Uhr auch durch Alter und Geschlecht bedingt – Kinder sind eher frühe Typen, Teenager sind Eulen, alte Menschen Lerchen und Männer sind eher Eulen als Frauen. Auch ob jemand ein Langschläfer ist oder nicht, ist angeboren und kann wie die innere Uhr kaum von aussen beeinflusst werden. «Chronotyp und Schichtarbeit müssen deshalb dringend synchronisiert werden», fordert Wirz-Justice. Frühe Chronotypen könnten unmöglich Nachtschicht machen. Und späte sollten nicht für die Frühschicht eingeteilt werden, da sie sonst nicht zu genügend Schlaf kommen.

Doch wie findet ein Arbeitgeber heraus, welche Schicht zu welchem Mitarbeiter passt? Die Wissenschaft arbeite an Modellen, doch noch habe man zu wenige Ergebnisse, sagte Till Roenneberg, Professor der Chronobiologie aus München, an der Tagung. Bisherige Studien seien unbrauchbar, da sie die innere Uhr als Faktor nicht beachteten. «Es braucht deshalb noch viel Feldarbeit.» Klar sei jedoch: Die Spannweite der angeborenen Tagesrhythmen sei riesig, die Individualität gross. Grundsätzlich gebe es jedoch mehr Nachtmenschen als Frühaufsteher. Doch nicht nur die Gene, auch das Licht bestimmt, wann wir aufstehen: Im Osten der gleichen Zeitzone, wo die Sonne früher aufgeht, stehen Menschen früher auf als im Westen. Und in der Stadt stehen sie später auf als auf dem Land, wo sich die Menschen häufiger draussen aufhalten und der Sonnenaufgang eher sichtbar ist.

Nachtarbeit schadet Gesundheit

Auch wenn die Wissenschaft erst wenig über die Folgen von Nacht- und Schichtarbeit auf den Menschen aussagen kann – eines wisse man ohne jeden Zweifel, sagt Roenneberg: «Schichtarbeit ist gesundheitsschädigend.» Je stärker die verschiedenen Rhythmen auseinanderklafften, desto höher sei die Wahrscheinlichkeit, krank zu werden. Roenneberg legte den anwesenden Arbeitgebern deshalb nahe, sich für mehr Grundlagenforschung und bessere Arbeitsbedingungen zu engagieren. Denn sonst könne es teuer werden: «Rauchen ist freiwillig – trotzdem gingen viele Raucher mit Erfolg gegen Tabakfirmen vor Gericht. Was passiert, wenn plötzlich eine Welle von Schichtarbeitern vor Gericht geht?» Denn: Schichtarbeiter seien nicht selber schuld, wenn sie erkranken.

Interview: ​

«Ich plädiere für spätere Arbeitszeiten»

Nicht nur Schichtarbeiter sind vom «sozialen Jetlag» betroffen – auch viele Nachteulen können in unserer Gesellschaft nicht nach ihrer inneren Uhr leben. Anna Wirz-Justice fordert deshalb spätere Schul- und individuell flexible Arbeitszeiten.

«Bund»: Unregelmässige Arbeitszeiten betreffen nicht nur Schichtarbeiter: Manager jetten um die Welt, Studenten lernen in der Nacht, in vielen Firmen sind Überstunden an der Tagesordnung. Müssen wir mit weniger Schlaf auskommen?

Anna Wirz-Justice: Ja. Arbeit, Freizeit, Sport, Familie – es wird immer mehr, was in 24 Stunden Platz haben muss, gespart wird nur beim Schlafen. Wir leben in einer 24-Stunden-Dienstleistungsgesellschaft, dies lässt sich nicht mehr rückgängig machen. Schichtarbeit und Überstunden sind der Preis, den wir dafür bezahlen. Es trifft aber nicht alle gleich: Frühaufstehern geht es in unserer Gesellschaft besser als Eulen, die spät ins Bett gehen und trotzdem früh raus müssen. Letztere leben wie Schichtarbeiter in einem ständigen Jetlag. Die Folge ist ein konstanter Schlafmangel – um diesen Schlaf nachzuholen, braucht es rund drei Wochen Ferien.

Reden Sie aus Erfahrung?

Ja, ich bin eine extreme Eule. Ich habe lange Zeit gelitten, als ich jeden Morgen früh im Büro stehen musste. Heute bin ich freie Mitarbeiterin und kann wählen, wann ich aufstehen will. Normalerweise zwischen neun und zehn Uhr, ins Bett gehe ich zwischen ein und zwei Uhr, so bin ich ausgeschlafen.

Weshalb ist die innere Uhr so wichtig?

Weil unsere gesamte Physiologie und unser Verhalten darauf abgestimmt ist. Sie ist eine fantastische Zeitorganisation und sagt voraus, was wir als nächstes tun. Sie ist auch eine Art Energieeffizienz: Sie sorgt dafür, dass wir zur richtigen Zeit die richtige Funktion ausüben.

Es gibt unter uns mehr Eulen als Lerchen – die Schweizer gelten jedoch als Frühaufsteher.

Ja, wir leben in einer Lerchengesellschaft, obwohl viel mehr Menschen Eulen sind, als man denkt. Es gilt auch nach wie vor als faul, wer morgens länger schläft und später ins Büro kommt. Dabei sieht niemand, was diese Leute abends leisten. Für Lerchen dagegen ist Nachtarbeit schwierig.

Gibt es keine Möglichkeit, sich an die Arbeitszeiten anzupassen?

Man kann sich anpassen, aber am Wochenende müssen die Schlafdefizite kompensiert werden. Dies kann also nur eine Übergangslösung sein, denn die innere Uhr passt sich nicht an: Sie ist angeboren und wird zusätzlich von Geschlecht und Alter beeinflusst, sie lässt sich also nicht einfach so verstellen. Einzig durch Licht lässt sich die innere Uhr verschieben.

Müssten also die Arbeitszeiten an die Menschen angepasst werden?

Ja. Es braucht dringend individuellere Arbeitszeiten, die es ermöglichen, den Tagesablauf des Einzelnen besser mit seiner inneren Uhr abzustimmen. Gerade für Jugendliche, die typischen Eulen in unserer Gesellschaft, müssten Arbeits- und Schulzeiten angepasst werden. Wahrscheinlich könnten viele Jugendprobleme gelöst werden, wenn die jugendlichen jede Nacht eine Stunde länger schlafen könnten. Beispielsweise beim Rauchen wurde ein Zusammenhang festgestellt: Je höher der soziale Jetlag, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass jemand raucht. Schlafmangel ist also ein Risikofaktor und diesem sind fast alle Jugendlichen ausgesetzt. Dass sie früher ins Bett gehen, kann man hingegen nicht von ihnen erwarten: Ihre innere Uhr lässt sie nicht einschlafen. Wenn sie am Wochenende bis nachmittags im Bett liegen, hat dies also nichts mit Faulheit zu tun. Sie müssen den verpassten Schlaf nachholen.

Welche Folgen kann Schlafmangel noch haben?

Konzentration, Motivation und Leistungsfähigkeit könnten mit mehr Schlaf gefördert werden. Denn wer nach dem eigenen Rhythmus schläft, hat einen besseren Schlaf. Dies ist auch für den Lernprozess wichtig, denn Schlaf dient der Gedächtnisverarbeitung: Wer zu wenig oder schlecht schläft, kann weniger aufnehmen. Ein Grund mehr für die Einführung späterer Schul- und Arbeitszeiten.

Sie sind also generell für spätere Arbeitszeiten?

Eine Spätschicht für alle wäre sicher besser als eine Frühschicht – jedenfalls aus gesundheitlicher Sicht. Sozial wäre sie jedoch nicht verträglich. Das ist unser Problem: Was gut ist für die Gesundheit, ist nicht unbedingt gut fürs soziale Umfeld. Ich plädiere trotzdem für spätere Arbeitszeiten – wir sind keine Bauern mehr, es gibt keinen Grund, den Tag so früh zu beginnen.

Wird dem Schlaf in unserer Gesellschaft zu wenig Bedeutung beigemessen?

Ja, Schlaf ist ein Problem in unserer Gesellschaft. Die Bedeutung des Schlafs – und damit der inneren Uhr – kann jedoch gar nicht hoch genug eingeschätzt werden: Es würde der Gesellschaft viel mehr bringen, wenn jeder nach seinem eigenen Rhythmus leben würde, als wenn jeder zur gleichen Zeit am Arbeitsplatz ist. Denn chronischer Schlafmangel hat auch wirtschaftliche Folgen: Es passieren mehr Fehler und Unfälle und die Gesundheitskosten steigen. Individuelle Schichten würden auch verhindern, dass Leute wegen Geld oder eines guten Jobs gegen ihre Uhr arbeiten. Noch kann die Wissenschaft keine Lösungen bieten. Je mehr wir wissen, wie wichtig Schlaf und die innere Uhr sind, müssen wir aber bereit sein, Lösungen zu finden.

ZUR PERSON

Anna Wirz-Justice forscht am Zentrum für Chronobiologie der Universitären Psychiatrischen Kliniken Basel über die biologischen Rhythmen. Sie beschäftigt sich mit Licht und Schichtarbeit und der Schlaf-Wach-Regulation des Menschen.

​Text und Interview: Manuela Ryter

Diese zwei Texte erschienen am 18. Juni 2008 im "Bund".​

«Jeder kann seinen Traum leben»

Seit 2000 ist Taekwondo offizielle olympische Sportart. Mit Manuela Bezzola hat sich für «Beijing 2008» nun erstmals eine Schweizerin für die Olympischen Spiele qualifiziert. Mit dem Glauben, dass alle Ziele erreichbar sind, hat die 18-Jährige ihren Traum erfüllt. Ausgeträumt hat sie aber noch lange nicht: «In Peking ist alles möglich.»

Istanbul, 26. Januar 2008. Nun war sie da: die letzte Chance. Der Traum von Olympia, den Manuela Bezzola seit Jahren geträumt hatte, war plötzlich in greifbarer Nähe. Bereits als 10-Jährige hatte Bezzola die Olympischen Spiele in Sydney im Fernsehen mitverfolgt. Zum ersten Mal war Taekwondo als offizielle olympische Sportart zugelassen. «So weit möchte ich auch kommen», hatte sich die junge Taekwondo-Kämpferin damals gedacht. Und vor vier Jahren, als sie Federer, Fischer und Co. bei der Eröffnungsfeier in Athen einlaufen sah, war für sie klar: «In ‹Beijing 2008› will ich dabei sein. Unbedingt.»

«Es war mein Tag und ich wusste es»

Und nun war ihre letzte Chance da. Die erste, am weltweiten Qualifikationsturnier in Manchester, hatte Bezzola im Herbst vergeben. An der kontinentalen Ausscheidung in Istanbul waren noch einmal drei Tickets pro Gewichtsklasse zu holen. Wer einen Match verliert, ist draussen. Manuela Bezzola stellte sich der ersten Gegnerin und gewann. Dann der zweiten. Der dritten. Wenn sie kämpft, fliegen ihre Beine blitzschnell durch die Luft, sie greift an, weicht aus, alles geht so rasant schnell, dass die einzelnen Bewegungen kaum auszumachen sind. «Es hat alles gepasst. Es war mein Tag und ich wusste es.» Schon als sie am Morgen aufgewacht sei, habe sie sich gesagt: «Heute fühle ich mich super, heute bin ich besser als die anderen, heute ist meine Chance.»

Und dann stand sie im entscheidenden Match – und gewann. Sie habe keine Erinnerung an diesen Match, sie habe beim Kämpfen jedes Zeitgefühl verloren, sagt glauben. Ich war überglücklich.» Jahrelang habe sie dafür trainiert, in den letzten Jahren täglich bis zu fünf Stunden neben ihrer kaufmännischen Sportlehre. Geschlafen habe sie in jener Nacht keine Minute.

Mit Selbstbewusstsein zum Erfolg

Heute blickt Manuela Bezzola mit Gelassenheit auf diesen Wintertag in Istanbul zurück. Sie sitzt auf dem Sofa in ihrem Elternhaus in Studen bei Biel, in Jeans und schwarzem Pulli, ihre gelockten Haare wie eine Ballerina streng nach hinten gekämmt. Ihre Qualifikation schreibt sie in erster Linie ihrem positiven und zielgerichteten Denken zu, denn «ich bin nicht besser als die anderen». Auf diesem Niveau seien die Leistungsunterschiede minimal, sagt die Junioreneuropameisterin 2005 und WM-Fünfte 2007, die erst seit einem Jahr in der Elite startet. Entscheidend seien Kleinigkeiten – und die mentale Stärke.

«Wenn man etwas wirklich will und alles dafür gibt, erhält man auch einmal 100 Prozent zurück. Jeder kann seinen Traum leben.» Sie sei von Natur aus ehrgeizig, dickköpfig und hartnäckig. Und das Selbstvertrauen werde durch Bezzola rückblickend. «Plötzlich machte es Piep und es war fertig.» Eine riesige Last sei von ihr gefall en: «Mein Traum war in Erfüllung gegangen. Ich konnte es gar nicht ihren Sport enorm gestärkt, sagt Bezzola. Das Vertrauen in die eigene körperliche und geistige Kraft sei im Taekwondo zentral, dies habe ihr René Bundeli, ihr Taekwondo-Lehrer und «Übervater», beigebracht. Wenn sie ihre Kraft und ihren Willen auf ein Ziel fokussiere, sei sie auch fähig, mit der Hand ein Holzbrett oder einen Ziegelstein zu zerschlagen. An ein mögliches Versagen denke sie gar nicht erst. Und falls sie doch mal eine Niederlage einstecke, dann motiviere sie das, «noch härter an mir zu arbeiten».

Kampf für mehr Anerkennung

Nun geniesst Bezzola den Rummel, den sie mit ihrer Olympia-Qualifikation ausgelöst hat. Freunde haben ihr gratuliert, alte Bekannte schickten Blumen, ehemalige Lehrer Karten, die Medien, «die sich vorher nie für unseren Sport interessierten», standen plötzlich vor der Tür. Es freue sie enorm, dass Taekwondo dank ihrer Qualifikation nun auch in der Schweiz etwas mehr Anerkennung erhalte, sagt Bezzola. In Spanien, Italien, Amerika – und natürlich Asien – sei Taekwondo seit langem sehr bekannt und beliebt. In der Schweiz aber kenne diese traditionelle koreanische Kampfsportart fast niemand. Es werde Zeit, dass sich dies ändere.

Dass die Olympischen Spiele in Asien stattfinden, wo ihr Sport herkommt, sei umso spannender, «auch wenn die Spannungen in China die Vorfreude etwas trüben». Sie glaube aber daran, dass der Sport die Welt vereine: «Die Olympischen Spiele sind wohl das einzige Ereignis, das so viele Kulturen zusammenbringt.» Spitzensport sei in dem Sinn eine gute Lebensschule: Man lerne nicht nur «zu beissen», sondern auch den Umgang mit anderen Mentalitäten und Kulturen. Asien kennt Bezzola bereits bestens: Sie war schon viele Male in Korea, Vietnam und China und hat Freundschaften mit asiatischen Sportlerinnen geschlossen. «Wer sich in Asien in Taekwondo für die Olympischen Spiele qualifiziert, ist dort ein Superstar, ähnlich wie hier Roger Federer.»

Peking und das Olympische Dorf, wo im vergangenen Jahr die Taekwondo-WM stattfand, seien unglaublich imposant, sagt die18-Jährige, «auch wenn damals noch alles eine Baustelle war». Die Chinesen hätten gar die Autobahnen gesperrt, um die Busse mit den Sportlern ins Olympische Dorf zu eskortieren.

An Manuela Bezzolas Zimmertür hängt eine selbstgemalte Zeichnung mit den olympischen Ringen und dem Schriftzug «Beijing 2008». Jahrelang habe sie jede Minute an Peking gedacht, daran, dass sie es schaffen könnte. Nun werde sie in ein paar Monaten selbst neben ihren Idolen an der Eröffnungsfeier einlaufen. «Plötzlich bin ich eine von ihnen.» Das sei wirklich einmalig. Sie werde sich jedoch neben all den Sportgrössen «klein vorkommen». Doch sie wolle ihren Traum nun weiterträumen: Sie gehe nicht an die Olympischen Spiele, um dabei zu sein, sagt sie in ihrer unerschrockenen und doch bescheidenen Art: «In Peking ist alles möglich.» Auch die beste Taekwondo- Kämpferin sei schlagbar. Auch Gold sei möglich. «Weshalb sollte mein Traum nicht weitergehen?»

Text: Manuela Ryter

Dieses Porträt erschien am 17. April 2008 im swiss sport 2/08, Magazin von Swiss Olympic.​

«Ich habe mein Glück gefunden»

Bruno Risi gibt noch einmal Gas: In «Beijing 2008» steht der weltbeste Sechstage-Radrennfahrer und Olympiazweite bereits zum fünften Mal an Olympia am Start. Das einzige, was dem 39-jährigen Urner noch fehlt, ist Olympiagold. Im Zentrum steht bei ihm heute jedoch seine Familie: Der «Uristier» ist ruhiger geworden – und damit auf der Rennbahn umso gefährlicher.

Bruno Risi, an den Sechstagerennen sind Sie der ewige Gewinner. Ihren Standardpartner wechselten sie in 17 Profijahren nur einmal. Sie zogen nie aus dem Kanton Uri weg, tragen seit jeher die gleiche Frisur. Sie sind kein Fan von Veränderungen.

Ich bin in einem konservativen Kanton aufgewachsen. Wir sind keine Hinterwäldler hier hinten, aber man ist etwas alteingesessen, da gibt es immer einen gewissen Aspekt an konservativem Denken. Das hängt wohl mit der Erziehung zusammen. Oder mit den Bergen.

2006 trat ihr langjähriger Partner Kurt Betschart vom Rennradsport zurück. Seit 2003 fahren Sie – nicht weniger erfolgreich – mit Franco Marvulli. Bedeutete dieser Wechsel eine Zäsur in ihrem Leben?

Nein, es war eher ein fliessender Übergang. Wir sind nur durch Zufall zusammen gekommen, weil sich Marvullis Standardpartner verletzte und ich für die WM in die Bresche sprang. Wir wurden auf Anhieb Weltmeister. Wir haben von Anfang an bestens harmoniert, technisch und menschlich. Betschart hatte irgendwann keine Freude mehr am Rennsport. Wir waren wirklich ein erfolgreiches Team. Heute herrscht jedoch Funkstille. Das ist vielleicht gut so. Wir hatten so viel Zeit zusammen verbracht, wir waren gesättigt voneinander, wie ein altes Ehepaar. Ich musste ihn nur anschauen und wusste, wie er drauf ist. Auch Sie sind nun bereits seit 17 Jahren Profisportler.

Hatten Sie noch nie genug?

Es gab in meiner Karriere auch Momente, in denen ich alles hinschmeissen wollte. Dann kamen die Kinder und mit ihnen neue Herausforderungen und neue Motivation. Grundsätzlich habe ich aber ganz einfach Freude am Velofahren und an unserer schönen Welt. Ich habe Freude, mein Hobby leben zu können. Und an der Landschaft. Uri ist der schönste Kanton der Schweiz, in der Berglandschaft steckt Energie. Ich geniesse es immer noch, eine Strecke zu fahren, die ich schon hundert Mal gefahren bin. Die Landschaft ist meine Energiequelle. Deshalb kam es auch nie in Frage, von hier wegzuziehen, auch wenn es trainingsmässig viel bessere Gebiete gäbe.

Und die immergleichen Runden, die Sie während eines Sechstagerennens auf der Bahn drehen? Ist das nicht monoton?

Nein, da kommt nie Langeweile auf. Es läuft so viel auf der Bahn! Während eines Rennens nimmt man die Umgebung nicht wahr, da spielt es keine Rolle, ob man auf der Strasse fährt oder auf der Bahn. Am Sechstagerennen sind wir auch Entertainer. Ein Strassenfahrer fährt von A nach B, um als erster anzukommen. Wir fahren auch fürs Publikum, das bezahlt hat. Wir spielen mit den Gegnern, das macht alles viel spannender, wir wollen dem Publikum etwas bieten. Etwa in Zürich, wenn Marvulli und ich eine Attacke machen, ist das ganze Publikum hinter uns, das bekommen wir natürlich mit: Wir bringen den Funken ins Publikum. Und wenn die Halle kocht, kommt der Funke zurück. Das ist Adrenalin, das macht süchtig! Die Beine sind schwer, das Rennen ist hart, aber wenn das Publikum auf den Bänken steht und ich weiss, es ist wegen uns, dann bekomme ich Hühnerhaut.

Also denken Sie noch nicht ans Aufhören?

Doch. Ich werde im September 40, auch ich muss einmal aufhören. Es ist schade, wenn man nach so einer Karriere erst aufhört, wenn der Erfolg nachlässt. Ich werde noch alles geben bis zwei Jahre nach den Olympischen Spielen in Peking. Dann höre ich auf mit den Rennen. Mit Velofahren selbstverständlich nicht.

Und danach?

Danach kommt wahrscheinlich ein riesiges Loch. [lacht] Nein, ich habe drei Kinder, eine wunderbare Familie. Ich freue mich sehr, wieder mehr Zeit für sie zu haben. Sie mussten sehr häufig auf mich verzichten. Und immer, wenn ich aus einem Trainingslager zurückkehre und sehe, wie sich die Kinder wieder verändert haben, wird mir bewusst, wie viel ich verpasse. Das stimmt mich melancholisch.

Wie werden Sie Ihren Ehrgeiz ausleben, wenn Sie nicht mehr Profirennfahrer sind?

Ich weiss noch nicht, was ich heute in zwei Jahren machen werde. Wahrscheinlich erst einmal eine Auszeit: Zeit haben, um den Kopf zu leeren und um über mich und meine Ziele nachzudenken. Auf jeden Fall wird es ein Neufanfang sein. Je näher der Zeitpunkt kommt, desto öfter denke ich darüber nach. Es ist eine Ungewissheit, aber auch eine Chance. Und eine Motivation, das Ansehen und den Erfolg, den ich jetzt im Sport habe, später in einem anderen Bereich wieder zu erreichen. Im Zentrum wird jedoch meine Familie stehen.

Hat Sie die Familie verändert?

Ja, enorm. Velofahren ist meine Leidenschaft, aber heute ist meine Familie mein Lebensmittelpunkt – Velofahren ist mein Beruf. Seit ich Kinder habe, gehe ich ganz anders an ein Rennen heran.

In welcher Hinsicht?

1996 in Atlanta und 2000 in Sydney wollte ich so viel, Velofahren war der Mittelpunkt in meinem Leben, ich setzte mich selbst enorm unter Druck. Seit ich eine Familie habe, ist der sportliche Erfolg relativ: Alles rückt ins richtige Verhältnis. Das gibt mir Halt, eine innere Ruhe. Und die brauche ich. Ich bin immer noch ehrgeizig, aber ich habe nicht mehr die innere Unruhe, die mich immer dann versagen liess, wenn ich es hätte bringen sollen. Heute gehe ich ans Rennen und gebe mein Bestes. Aber was zählt, ist die Familie. Wenn ich nach Hause komme, strahlen die Kinder – ob ich nun Weltmeister bin oder nicht. Für sie spielen Resultate keine Rolle.

Gehen Sie seither auch besser mit Niederlagen um?

Auf jeden Fall. Schulterklopfer gibt es viele, wenn man Erfolg hat. Wenn er ausbleibt, ist es die Familie, die für dich da ist. Ich war nicht immer erfolgreich, auch ich hatte sehr schwierige Erlebnisse. In Atlanta und Sydney habe ich kläglich versagt, obwohl ich der Favorit war. Da ist für mich die Welt zusammengebrochen, ich hatte sehr lange, um diese Niederlagen zu verarbeiten. Ich war so enttäuscht, dass ich meinen eigenen Erwartungen nicht gerecht wurde. Aber als Sportler muss man lernen zu verlieren und frisch anzufangen. Der Sport ist deshalb eine enorm gute Lebensschule. Für mich war es jedoch sehr schwierig, dies zu lernen – ich bin wirklich sehr ehrgeizig. Ich konnte schon als Bub nie verlieren.

In «Beijing 2008» werden Sie wieder als Favorit starten – und bereits zum fünften Mal an Olympia. Die Medaille, die in Ihrem Palmarès noch fehlt, ist Olympiagold. Wird der Druck diesmal nicht besonders hoch sein?

Für mich als Sportler wäre Gold natürlich das «Pünktli auf dem i». An Olympia Erfolg zu haben, ist das Höchste, was du als Sportler erreichen kannst, das ist genial. Für meinen Ehrgeiz wäre Gold deshalb sehr wichtig. Aber: Mit meiner Familie habe ich mein Glück, mein «Inseli» gefunden. Ich muss mein Glück nicht mehr im Sport suchen.

Text: Manuela Ryter

Dieses Interview erschien am 17. April 2008 im swiss sport 02/08, Magazin von Swiss Olympic.

Heldinnen der Aids-Waisen
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Afrikas Grossmütter müssen für Kinder von aidskranken Eltern sorgen – Ältere Generation hat keine Altersvorsorge

In Afrika leben über 20 Millionen Menschen mit Aids. Das sind fast zwei Drittel aller HIV-positiven Menschen weltweit. Schweizer Entwicklungshilfen weisen auf die grosse Leistung und das Leid der älteren Generation hin.

Durch Aids stirbt in Afrika die Elterngeneration aus. Sie hinterlässt nicht nur Waisen, sondern auch verarmte alte Menschen. Grossmütter waren in Entwicklungsprojekten bisher jedoch kaum ein Thema. «Kinder sind für Entwicklungsprojekte viel interessanter. Doch es ist die Grosseltern-Generation, die zu den Hauptverlierern der Aidsepidemie gehört.» Das erklärt der Basler Kurt Madörin, der für das Hilfswerk «terre des hommes schweiz» gearbeitet hat und mit seiner Frau und vier Waisen in Tansania lebt. Der von ihm gegründete Verein Kwa Wazee und etwa 30 Entwicklungsorganisationen der Plattform «aidsfocus.ch» haben im Vorfeld des Welt-Aids-Tags mit einer Debatte in Bern die ältere Generation ins Blickfeld gerückt.

Betreuen statt betreut werden

«Grossmütter sind die wahren Heldinnen Afrikas: Sie sind es, die Aids-Kranke bis zu ihrem Tod pflegen und dann deren Kinder in Obhut nehmen», sagt der 69-jährige Madörin. Er selbst ist auf ihre Lage aufmerksam geworden, als er pensioniert wurde. «Ich fragte mich, wie alte Menschen in Afrika überleben.» Denn Renten gibt es keine, und die «natürliche Altersvorsorge», die Betreuung der Grosseltern durch ihre Familien, ist vielerorts aufgelöst: die Mütter sind gestorben und die Väter nach deren Tod weggegangen. «Viele Grossmütter werden ausgegrenzt und verarmen.» Sie seien vielen Belastungen ausgesetzt, berichtet Madörin: Sie müssen für Essen, Kleider und Schulhefte der Enkel aufkommen. Und diese wiederum müssen Arbeiten erledigen, die vorher ihre Eltern verrichteten und zudem die Grosseltern pflegen, wenn diese erkranken.

Madörin begann deshalb, einen Teil seiner Rente an Alte in Nshamba in der Provinz Kagera zu verteilen. Daraus entstand 2004 der Verein Kwa Wazee, der heute über 500 Grossmütter und deren Enkel mit minimalen Renten und einem Selbsthilfe-Programm unterstützt – mit dem Ziel, dereinst die tansanische Regierung für solche Leistungen zu gewinnen. «Bereits kleine Beträge haben erstaunliche Wirkung», betont Madörin. «Arme gehen höchst verantwortungsvoll mit Geld um.» Madörin ist überzeugt, dass monatliche Renten die Armut alter Leute und damit auch der Aidswaisen lindern.

Spenden für Renten

Erfahrungen der deutschen Entwicklungsagentur GTZ bestätigen dies: «Soziale Grundsicherung durch direkte Geldhilfe ist günstig und effizient», sagt Experte Matthias Rompel. Die GTZ hat in Studien festgestellt, dass Grosseltern und deren Enkel zu den Ärmsten der Armen gehören. Gerade diese Gruppen könnten angesichts ihrer sehr beschränkten Kräfte kaum Selbsthilfeprogramme starten und so Unterstützung erhalten. «Deshalb braucht es Geld», sagt Rompel. Es handle sich um finanzierbare Summen, die die einzelnen Länder für Renten aufbringen müssten. Es liege an Organisationen der Zivilgesellschaft, sich mit Lobbyarbeit dafür einzusetzen. «Das Thema Alter und Aids wurde tatsächlich vernachlässigt», sagt Joseph Kasper vom Schweizerischen Roten Kreuz. Infolge der «aidsfocus»-Debatte hat er Informationen gesammelt und an Partner in Westafrika weitergeleitet.

Seine Bitte, bei Aidsprojekten vermehrt mit älteren Leuten zu arbeiten, wurde gut aufgenommen. «Wir konnten einen Funken entzünden», sagt «aidsfocus»-Koordinatorin Helena Zweifel.

«Gesundheits- und Entwicklungsexperten haben erkannt, dass nicht nur die sexuell aktive Bevölkerung von Aids betroffen ist, sondern auch ihre Eltern und die ältere Generation.» Mehr Lobbyarbeit für die Alten weltweit ist gerade wegen der demographischen Veränderungen von grosser Bedeutung. Laut Prognosen wird die Anzahl über 60-Jähriger bis 2050 von 600 Millionen auf 2 Milliarden steigen. Den stärksten Anstieg wird es mit 7 auf 20 Prozent in Entwicklungsländern geben.

Text: Manuela Ryter (infosüd)

Dieser Artikel erschien am 1. Dezember 2007 im St. Galler Tagblatt.​

«Europa und Afrika vernetzen»
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Mit einem «Afro-europäischen Netzwerk» will Charles Senessie von Zollikofen aus gegen Aids in Afrika vorgehen

Die Kranken sind in Afrika, über ihre Krankheiten geforscht wird jedoch in Europa. Um Aids besser bekämpfen zu können, will der afrikanische Arzt Charles Senessie aus Zollikofen mit dem «Afro-europäischen Netzwerk für Medizin und Wissenschaft» den Wissensaustausch verbessern.

Etliche Linien durchziehen die Weltkarte an der Wand in Charles Senessies Büro in Zollikofen. Alle führen von Europa und Nordamerika nach Afrika – und zurück: Es sind die Verbindungen, die Senessie bereits aufgebaut hat. Sie sollen die Welt vernetzen und einen wissenschaftlichen Austausch zwischen dem Schwarzen Kontinent und dem Rest der Welt ermöglichen. «Eine verbesserte globale Zusammenarbeit ist dringend nötig, um gegen die Missstände im afrikanischen Gesundheitssystem vorzugehen», sagt der Arzt aus Sierra Leone, der seit 2004 in Zollikofen lebt. Vor einem Jahr hat er deshalb das «Afro-europäische Netzwerk für Medizin und Forschung» (AEMRN) mit Sitz in Zollikofen gegründet – und ist damit auf internationales Interesse gestossen: In den USA, in Kanada, Schweden und Holland sind seither weitere Büros entstanden, die mit jenen in Sierra Leone, Liberia, Kamerun, Kenia, Ghana und Kongo zusammenarbeiten. Und auch die Weltgesundheitsorganisation WHO liess sich von seinem Projekt überzeugen und machte ihn zum Partner ihres Programmes für den globalen Wissensaustausch.

Gegenseitig profitieren

Heute bestünden grosse Wissenslücken zwischen Europa und Afrika, sagt Senessie: «Die Kranken sind in Afrika, die Forschung aber findet im Westen statt.» In der Schweiz wisse jeder, was Aids sei und wie es übertragen werde – in Afrika, wo 60 Prozent der Aidskranken lebten, jedoch nur die wenigsten. Umgekehrt müssten viele Studien der Aids-Forschung hinterfragt werden, weil sie in Europa durchgeführt worden seien und nicht in Afrika, wo die Probleme am grössten seien: «Mit einer besseren Zusammenarbeit könnte die Wissenschaft von den Erfahrungen der afrikanischen Ärzte profitieren.»

Als Flüchtling Aids bekämpfen

Bewusst wurde Senessie dieses Ungleichgewicht, als er 2004 seiner aus Sierra Leone geflüchteten Familie in die Schweiz nachfolgte. In Afrika hatte er sich als Arzt insbesondere mit Aids beschäftigt. In der Schweiz knüpfte er dank der Unterstützung von Ueli Hänni, der in Zollikofen als Hausarzt viele Flüchtlinge behandelt, schnell Kontakte mit Aids-Spezialisten des Insel-Spitals. Später arbeitete er während eines Jahres am Institut für Sozial- und Präventivmedizin der Universität Bern unter anderem in der Aids-Forschung und nahm an vielen internationalen Aids-Tagungen teil. Seit 2006 ist er freiwilliger Assistenzarzt in Hännis Praxis, der heute Berater des AEMRN ist. Als er eines Tages von einem verzweifelten Kollegen in Afrika um Hilfe gebeten wurde, habe er gesehen, dass es Möglichkeiten gebe, sein Wissen in Afrika weiterzugeben, sagt Senessie: «Ich wollte meiner Heimat, die ich verlassen hatte, etwas zurückgeben.» Dieses Bedürfnis teile er mit vielen Afrikanern in der Fremde. Dank dem Netzwerk könnten sie ihr Wissen nun weitergeben: Viele Mitglieder des Vereins sind emigrierte afrikanische Wissenschaftler – Ärzte, Soziologen, Psychologen und Ingenieure –, die sich, unterstützt von europäischen Ärzten, mit ihren Kollegen in Afrika austauschen. Dank der Zusammenarbeit könnten sich Ärzte in Afrika selbst helfen, sagt Senessie. Dies sei wichtig, denn «der beste Pilot ist derjenige, der die Strecke am besten kennt». Es mache keinen Sinn, wenn medizinische Hilfe in Afrika nur von Europäern geleistet werde.

Gemeinsame Arbeit in Afrika

Wissensaustausch mit Europa statt Abhängigkeit vom Westen ist es denn auch, was die Projekte von AEMRN, die auf ehrenamtlicher Arbeit basieren und durch private Spenden finanziert werden, anstreben. So hat das Netzwerk unter anderem in Liberia ein Krankenhaus aufgebaut, das nun als Ausbildungs- und Forschungszentrum der Universität dient. Und in «Workcamps», die AEMRN ab November durchführt, werden interdisziplinäre Gruppen afrikanischer und europäischer Wissenschaftler jeweils einen Monat in Kenia, Liberia und Kamerun in einer mobilen Praxis von Dorf zu Dorf ziehen und die Bevölkerung über Aids und andere Krankheiten informieren, sie behandeln und ihre Daten für die wissenschaftliche Auswertung aufnehmen. «So kann eine gemeinsame Erfahrungsbasis für die Zusammenarbeit geschaffen werden.»

[@] www.aemrnetwork.ch

​Text: Manuela Ryter (infosüd)

Dieser Artikel erschien am 11. Oktober 2007 im "Bund".​

«Tamilen sollen Dialog entfachen»
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In Belp wurde der geplante hinduistische Tempel verhindert – der Verein Aum Shakti kämpft jedoch weiter.

In der Belper Aemmenmatt kann der hinduistisch-tamilische Verein Aum Shakti seinen Tempel nicht bauen. Die Tamilen werden nun nach einem neuen Standort suchen – im Stillen, um erneuten Widerstand zu verhindern.

Mehr als ein Jahr lang hatte der Verein Aum Shakti an seinem hinduistischen Tempelprojekt, das in der Belper Aemmenmatt geplant war, gearbeitet. Doch dann kam in Belp Widerstand auf und der Belper Gemeinderat entschied sich kurzfristig, just jenes Stück Land zu kaufen, auf dem der Tempel geplant war – mit der Begründung, Belp müsse wieder über Landreserven verfügen, um «die bauliche Entwicklung besser steuern zu können», wie der Belper Gemeindepräsident Rudolf Neuenschwander (sp) sagte. Vor zwei Wochen bewilligte die Belper Bevölkerung stillschweigend den politisch brisanten Landkauf. Das Projekt der Tamilen war damit innert kürzester Zeit und ohne jeden politischen Widerstand vom Tisch (der «Bund» berichtete).

«Wir werden nicht locker lassen»

«Die Gemeinde wollte uns das Land wegkaufen», sagt Dinesh Zala, der das Bauprojekt leitet. Rechtliche Schritte habe man jedoch nicht gegen die Gemeinde eingeleitet, sondern gegen die Verkäuferin, die Mavena AG. Diese habe ihnen das Grundstück versprochen gehabt und die Verhandlungen plötzlich abgebrochen, sagt Zala. «Wer bezahlt uns jetzt die 200 000 Franken, die wir in die Projektierung investiert haben?» Die Mavena begründete den Schritt gegenüber dem «Bund» damit, Aum Shakti habe es unterlassen, den Kaufvertrag rechtzeitig zu unterschreiben. Laut Zala wurden die Verhandlungen jedoch wegen einer Projektänderung durch die Mavena verzögert.

«Wir sind nach wie vor am Land interessiert», sagt Zala. Man werde deshalb bei der Gemeinde anklopfen: «Wir werden nicht locker lassen.» Laut Neuenschwander hat die Gemeinde Belp jedoch «nicht im Sinn, das Land in nächster Zeit zu verkaufen». Eine Anfrage der Tamilen werde man aber prüfen.

Projekt war zonenkonform

Man habe auch bereits mit der Suche nach einem neuen Standort begonnen, sagt Zala. Wo, will er jedoch nicht sagen – man wolle verhindern, «dass dies noch einmal passiert». Künftig werde er eine Bestätigung der Gemeinde, dass sie nicht gegen den Bau vorgehen werde, verlangen. In Belp hatte er nur eine Bauvoranfrage gemacht, um sicherzugehen, dass das Projekt zonenkonform sei. «Die Antwort fiel positiv aus, doch nun wurde der Bau trotzdem verhindert.»

Ohne Dialog keine Integration

Auch in der Gemeinde Lyss, wo heute ein Teil des Vereins Aum Shakti zu regelmässigen Treffen und Gottesdiensten zusammenkommt, hat man für das Vorgehen der Gemeinde Belp wenig Verständnis: Sie verstehe zwar, dass sich die Belper bedrängt fühlten, sagt Ursula Lipecki, SP-Fraktionspräsidentin und Ko-Leiterin der Integrationsgruppe in Lyss. «Aber es ist sehr beleidigend für die Tamilen, wenn man das Thema nicht einmal diskutiert.» Es sei in einer Demokratie hoch problematisch, wenn eine Gemeinde die Leute einfach vor den Kopf stosse, ohne den Dialog zu suchen. «So findet keine Integration statt», sagt Ursula Lipecki – mit diesem Vorgehen, «einer Art Rassismus», werde das Problem vielmehr an eine andere Gemeinde abgeschoben.

«Jetzt Verbündete finden»

Es sei jetzt jedoch auch an den Tamilen selber, den Dialog aufzunehmen, statt sich als Opfer zu fühlen und sich zurückzuziehen, sagt Usula Lipecki: Sie hätten bisher in der Schweiz sehr versteckt gelebt, «nun wollen sie etwas von der Gemeinschaft Schweiz, also müssen sie sich mit der Gesellschaft, in der sie leben, auch auseinander setzen, sich öffnen und Verbündete finden».

In Lyss unauffällig

Viele Mitglieder von Aum Shakti seien in Lyss sesshaft, «ihr Anspruch auf einen Raum, wo sie ihre Religion ausüben können, ist deshalb legitim», sagt Lipecki. Der tamilische Verein falle in Lyss nicht negativ auf, bestätigt Gemeindepräsident Hermann Moser (fdp). Hier habe dieser noch keine Anfrage für einen Landkauf gemacht. Dass die Suche nach geeignetem Bauland auch in Lyss nicht einfach wäre, räumt Moser allerdings ein: «Unser Zonenplan hat keinen Platz für Kultusbauten vorgesehen.» Wenn jedoch eine Anfrage auf den Tisch läge, «müsste man dies prüfen», sagt Hermann Moser – bei der nächsten Ortsplanung werde die Gemeinde das Thema Kultusbauten jedenfalls mit Sicherheit diskutieren. Seiner Meinung nach sollten solche Bauten möglich sein, «sie sollten jedoch der Gemeindegrösse angemessen sein».

Tempel für die Göttin

Ein Kleinprojekt plant Aum Shakti allerdings nicht. Während sich der Verein – nach der Göttin benannt, die er anbetet – in der Gemeinde Lyss in einem kleinen Raum trifft, würde der Tempelneubau auch weiteren Vereinsgruppen zur Verfügung stehen: Geplant war in Belp ein Kubusbau mit einer kleinen Kuppel, in dem sich einmal wöchentlich 250 bis 300 Personen treffen würden. Während der Woche würden ausserdem vierzig bis fünzig Knaben und Mädchen in tamilischer Schrift, Sprache und Kultur unterrichtet.

Interview mit Mathias Kuhn, Assistent am Institut für öffentliches Recht der Universität Bern.​

«Gemeinde ist keine Investorin»

«Bund»: Herr Kuhn, Sie sind Mitautor einer Studie über die «bau- und planungsrechtliche Behandlung von Kultusbauten». Wo liegen die Konflikte?

Mathias Kuhn: Das Hauptproblem ist, dass nur wenige Gemeinden Zonenpläne haben, die Kultusbauten zulassen. Vielen Gemeinden war beim Erlass ihrer Nutzungsordnungen nicht bewusst, dass hier ein raumrelevantes Bedürfnis besteht. Durch die Migration sind in den letzten Jahren viele Glaubensgemeinschaften gewachsen. Diese Gruppierungen möchten nun neue Glaubensstätten errichten oder bestehende Gebäude umnutzen. In vielen Orten ist dies aber nicht möglich, da eine entsprechende Baute oft nur in Zonen für öffentliche Nutzungen zulässig ist. Dort ist jedoch meist kein Bauland vorhanden.

In Belp sind Kultusbauten in Gewerbe- und Arbeitszonen noch nicht verboten. Verhindert wurde das Projekt der Tamilen trotzdem.

Es ist sehr schade, wenn eine fortschrittliche Gemeinde wie Belp einen Schritt zurück macht. Andere Gemeinden, etwa die Stadt Bern, gingen in eine andere Richtung: Hier wurden Zonen so definiert, dass Kultusbauten möglich sind. Aber gerade weil dies in den meisten Gemeinden noch nicht der Fall ist, ist es verständlich, dass die Gemeinde Belp eine Ballung befürchtet, nachdem sie schon der serbisch-orthodoxen Kirche eine Baubewilligung erteilt hat. Es wäre jedoch ehrlicher gewesen, wenn sie dies offen kommuniziert hätte. Stattdessen wurde die Diskussion umgangen, um nicht mit dem Vorwurf der Ungleichbehandlung oder gar der Diskriminierung konfrontiert zu werden.

Hat Belp mit seinem Vorgehen die Glaubensfreiheit verletzt?

Nein. Es liegt kein unzulässiger Eingriff in die Glaubens- und Gewissensfreiheit vor, wenn Kultusbauten in bestimmten Zonen verboten werden. Es ist gerade der Sinn der Nutzungspläne, dass nicht überall alles gebaut werden kann. Massagesalons, Friedhöfe oder Kehrichtverbrennungsanlagen sind auch nicht überall zulässig. Problematisch ist allerdings Belps Vorgehen: Das Instrument zur Steuerung der baulichen Entwicklung ist die Ortsplanung. Eine Gemeinde hat jedoch nicht die Funktion, als Investorin aufzutreten und mit einem Landkauf direkt in die freie Marktwirtschaft einzugreifen, ohne dass ein klares Bedürfnis – etwa für den Bau eines Schulhauses – vorhanden ist.

Der Verein Aum Shakti wird nun einen neuen Standort suchen. Beginnt für ihn damit ein Spiessrutenlauf durch die Gemeinden?

Man sollte das Thema in einen politischen Prozess einbringen und nicht auf kommunaler Ebene, sondern regional oder kantonal angehen. Auf Gemeindeebene sind die politischen Hürden riesig. Für die Integration dieser Gruppen ist es jedoch wichtig, dass sie ihre Religion ausüben können. Der Kanton könnte den Gemeinden im Richtplan den Auftrag geben, Kultusbauten zu ermöglichen. Er könnte das Platzproblem auch besser koordinieren. Denn viele Glaubensgemeinschaften haben ein grosses Einzugsgebiet: Die Mitglieder kommen von weit, um sich an einem Ort zu treffen.

Text und Interview: Manuela Ryter

Dieser Artikel erschien am 29. September 2007 im "Bund".​

«Tempel wird verhindert»
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Der Landkauf der Gemeinde Belp wirft Fragen auf – Tamilen fühlen sich schikaniert.

Der tamilische Verein, der in Belp einen Tempel plant, habe seine Chance verpasst, sagt der Gemeinderat von Belp, der diese Parzelle nun erwerben will. Die Tamilen fühlen sich jedoch von der Gemeinde und der Mavena schikaniert.

Gemäss Botschaft des Gemeinderates zur Gemeindeversammlung vom nächsten Donnerstag ist der geplante Landkauf in der Aemmenmatt ein trockenes Geschäft: Für 2,4 Millionen Franken will er dort eine Parzelle kaufen, um künftig wieder besser steuern zu können, wer sich in Belp ansiedelt und wer nicht. Anders als die Botschaft vermuten lässt, ist das Geschäft jedoch brisant: Denn es handelt sich um genau jenes Land, das ein hinduistisch-tamilischer Verein kaufen will, um dort ein religiöses Zentrum zu bauen. Und spätestens seit den Kontroversen um die Baubewilligung der serbisch-orthodoxen Kirche in der Aemmenmatt erhitzt das Thema Sakralbauten in Belp die Gemüter. So haben die bürgerlichen Parteien im Juni vom Gemeinderat gefordert, weitere religiöse Zentren in Belp zu verhindern. Als «guter Schachzug» wurde denn auch das Vorgehen des Gemeinderats beurteilt, dieses Geschäft über die Bühne zu bringen, ohne das Thema Sakralbauten anzuschneiden («Bund» von gestern). Obwohl inoffiziell bestätigt wird, dass der Gemeinderat das Land bewusst mit der Intention kauft, das Tamilenprojekt zu verhindern, hält Gemeindepräsident Rudolf Neuenschwander an seiner Aussage fest, der Landkauf habe nichts mit dem Projekt der Tamilen zu tun. Diese hätten es verpasst, das Land zu kaufen, und kaum Interesse gezeigt.

Fazit: Aussage gegen Aussage

Dinesh Zala von der Archimm AG, der das Tempelprojekt des tamilischen Vereins Aum Shakti leitet, gerät in Rage ob solcher Aussagen. «Wir sind nach wie vor am Land interessiert», sagt er. Es habe zwar eine Verzögerung gegeben, doch die habe verschiedene Gründe. Für ihn sei klar: Die Gemeinde wolle den Tempel verhindern, nachdem sie gegen die serbisch-orthodoxe Kirche nichts habe unternehmen können.

Im Frühling 2006 habe er zum ersten Mal Kontakt mit der Firma Huber und Ploerer, die im Auftrag der Mavena für den Verkauf des Landes zuständig war, Kontakt aufgenommen, sagt Zala. Man habe daraufhin die sechs zum Verkauf stehenden Baufelder unter den Interessenten aufgeteilt. Im Dezember habe er bei der Gemeinde eine Bauvoranfrage eingereicht, «weil wir sahen, welche Probleme die serbisch-orthodoxe Kirche hatte – dies wollten wir vermeiden». Im März 2007 erhielt Zala von der Gemeinde eine positive Antwort – gemäss Baureglement sind Sakralbauten in der Industrie- und Gewerbezone nicht verboten. «Die Gemeinde verlangte jedoch, dass wir das Gebäude anders platzieren», sagt Zala – dafür habe man wiederum mehr Boden und Geld benötigt. Im April hatte Suresh Selavartnan von Aum Shakti gegenüber dem «Bund» gesagt, man werde das Baugesuch in Kürze einreichen. Im Mai habe er von Huber und Ploerer den neuen Kaufentwurf erhalten, sagt Zala. «Danach sagte uns die Firma, ein neuer Interessent sei an einem Teil unserer Parzelle interessiert» – man sei bereit gewesen, das Projekt erneut zu ändern. «Wir wollten nicht stur an unserer Parzelle festhalten.»

Dies sei ihnen nun zum Verhängnis geworden, sagt Zala – denn die Änderung erforderte wiederum einen neuen Vertrag, «doch der ist nie bei uns angekommen». Stattdessen habe er erfahren, dass die Gemeinde das Bauland kaufen wolle. Huber und Ploerer hätten gesagt, dass sie von der Mavena die Weisung erhalten hätten, jegliche Kaufverhandlungen zu sistieren.

«Tamilen selber schuld»

Letzteres wird von Arnold Muri, Geschäftsführer der Huber und Ploerer Immobilien AG, bestätigt. Mehr wollte er zu den Verhandlungen nicht sagen. Mit der Gemeinde habe die Mavena AG selbst verhandelt. Die Mavena sei interessiert, das Grundstück zu verkaufen, hiess es gestern von Seiten der Firma. Die Tamilen hätten ihre Chance, den Vertrag zu unterschreiben, jedoch nicht wahrgenommen und seien deshalb «selber schuld», dass ihnen nun jemand zuvorkomme: «Uns spielt es keine Rolle, an wen wir verkaufen – der Schnellere erhält den Zuschlag.» Und die Gemeinde war schnell: «Sie entschied sich sehr kurzfristig, dass sie das Land kaufen will.» Ausserdem sei es im Interesse von Mavena, wenn gleich alle drei verbliebenen Baufelder dem gleichen Käufer verkauft würden.

«In Schweiz gilt Religionsfreiheit»

«Wenn die Gemeinde wirklich Bauland braucht, weshalb hat sie sich dann nicht vorher gemeldet?», sagt Zala. Bis sie gekommen sei, sei der Landkauf nie in Frage gestanden. «Jetzt stehen wir mit abgesägten Hosen da.» Für die Tamilen sei dies niederschmetternd: «Wenn unser Projekt in Belp scheitert, wird es auch an anderen Orten scheitern.» Denn das Vorgehen des Gemeinderates sei klar gegen die Tamilen gerichtet.

Der Verein Aum Shakti, der sich heute in Lyss trifft, plante in der Aemmenmatt einen Kubusbau mit einer kleinen Kuppel. «Von aussen sieht man nicht, dass dies ein Tempel ist», sagt Zala. Schliesslich habe auch das Bundeshaus eine Kuppel. 40 bis 50 Kinder würden hier in tamilischer Schrift, Sprache und Kultur unterrichtet, und einmal wöchentlich gebe es einen Anlass mit 250 bis 300 Personen. Vorgesehen seien 80 Parkplätze. Und: «Für Belp gäbe es 15 neue Arbeitsplätze», sagt Zala. Tamilen seien seit Jahren gut integriert in der Schweiz, viele seien eingebürgert – «da muss man ihnen auch die Freiheit geben, ihre Kultur auszuüben». Schliesslich gelte in der Schweiz Religionsfreiheit – da gehe es nicht an, dass eine Gemeinde versuche, ein religiöses Zentrum zu verhindern, sagt Dinesh Zala.

KOMMENTAR

Fragwürdiges Vorgehen

Belp will in seinen Industriezonen Firmen und Unternehmen ansiedeln, die Arbeitsplätze schaffen und Steuern bezahlen. Das ist nachvollziehbar und legitim. Ein religiöses Zentrum leistet weder das eine noch das andere. Das Vorgehen des Belper Gemeinderats, das zumindest indirekt den Bau des tamilischen Tempels und Kulturzentrums des Vereins Aum Shakti in der Aemmenmatt verhindert, wirft jedoch Fragen auf.

So fällt der ungewöhnlich schnelle Entscheid just mit der Überweisung einer Motion zusammen, mit der die bürgerlichen Parteien eine «Ballung von Sakralbauten» in Belp verhindern wollen. Über diesen Hintergrund schweigt sich der Gemeinderat gegenüber der Bevölkerung jedoch aus, obwohl inoffiziell bestätigt wird, dass dieser das Tamilenprojekt mit dem Landkauf bewusst verhindern will. Einzelne Parteien werten dieses Vorgehen als «guten Schachzug». Er ist jedoch äusserst heikel: Denn indem der Gemeinderat so überstürzt in den freien Markt eingreift – und dies mit scheinbar guten Argumenten vertuscht –, setzt er sich dem Vorwurf aus, die Religionsfreiheit zu missachten.

Umso erstaunlicher ist es, dass sich keinerlei Opposition regt. Denn nun wäre es an den Parteien, der Exekutive auf die Finger zu schauen. Es mag sein, dass der geplante Tempel den Zonenplan «zweckentfremdet». Fakt ist jedoch, dass ein religiöses Zentrum in der Industrie- und Gewerbezone noch nicht verboten ist.

Text und Kommentar: Manuela Ryter

Dieser Artikel erschien am 8. September 2007 im "Bund".​

Meister der Töfflibuben
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Jahrzehntelang hat Bruno Andrenacci in Muri Vespas, Velos und Töfflis geflickt, nun geht er in Pension.

Ob ein tropfender Auspuff, ein geplatzter Velopneu oder Sorgen mit der Ehefrau – in «Brünus» Velo- und Töffwerkstatt in Muri wurde jedes Problem diskutiert und wenn irgendwie möglich auch behoben. In den 32 Jahren wurde Bruno Andrenacci zum Muriger Original, nun heisst es: «Arrivederci».

Der Abschied ist bitter. Bruno Andrenacci tut zwar so, als wäre nichts, als sei die kurz bevorstehende Ladenschliessung noch Jahre entfernt. Als würde das grosse Abschiedsfest für ihn nie stattfinden. Er hetzt durch seine Werkstatt, empfängt hier einen Kunden mit einem herzlichen «Ciao», prüft dort die Höhe eines Velosattels. Er dreht draussen den knarrenden Motor einer alten Vespa auf, die er am Tag zuvor geflickt hat, und klopft die Schulter eines alten Freundes, der hier regelmässig zu einem Schwatz auftaucht. Hund Jerry, sein «Chef», zottelt ihm hinterher. Ein Tag wie jeder andere, seit er 1975 seine Werkstatt hier im Murizentrum eröffnet hat. Und doch ist alles anders. Kein Töffli, kein Velo, keine Vespa, kein Motorrad steht mehr aufgereiht vor dem Laden. Der Abschied ist allgegenwärtig, die Werkstatt schon fast leer geräumt. Nur die Madonna blickt noch immer vom kitschigen Bild im Büro, und auf einer verblichenen Werbung posiert eine hübsche Italienerin sexy neben einem hellblauen Töffli. «Ciao ciao bambina», heisst es dort verheissungsvoll.

«Ich bin mit Muri gewachsen»

Für Bruno heisst es nun «Arrivederci»: 52 Jahre lang hat er in Italien, in Ostermundigen und seit 1975 in Muri Velos und Töfflis geflickt und verkauft. Nun geht der 67-Jährige in Pension. Er dürfe gar nicht an das Fest denken, sagt Andrenacci, der mit allen per Du ist, mit dem reichen Muriger Geschäftsmann wie mit dem Arbeitslosen, der täglich vorbeischaut. Er werde nur traurig, «wäge de Kinde», sagt er mit breiten italienischen Akzent. Er spricht von den Kindern, die schon vor dreissig Jahren in seinen Laden kamen. Die sich hier im italienischen Chaos wohl fühlten und für ein Gipfeli und Schoggistängeli am Morgen die Velos und Töfflis nach draussen schoben und aufreihten. «Wie viele habe ich aufwachsen sehen! Sie sind heute gross und kommen immer noch vorbei!» Er sei mit Muri gewachsen, sagt der hagere Mann mit dem südländischen Charme: Er kenne jeden hier – und jeder kenne ihn.

Hunderte Fahrräder hat er in dieser Werkstatt verkauft. Nächtelang hat er an kaputten Motorrädern gebastelt. Er sei der beste «Mech» der Region, heisst es bei seinen Kunden. «Er flickt alles und schraubt jeweils so lange, bis er herausfindet, was kaputt ist», sagt Hans Mehri, der seine Vespa schon zu «Bruno» brachte, als dieser in den 1960er- Jahren noch in einer Garage in Ostermundigen angestellt war. Schnell war der junge Italiener damals bekannt und wurde zum Meister der Töfflijugend aus der ganzen Region. Sogar aus Frutigen und Kandersteg seien sie gekommen, sagt Andrenacci und lacht. «Frisiert habe ich die Töfflis zwar nie, die Polizei hat mich oft genug kontrolliert.» Tipps habe er den Buben jedoch viele gegeben.

Motoren, seine Leidenschaft

Motoren waren schon immer Andrenaccis Leidenschaft: Als Halbwüchsiger begann der Bauernsohn in Teramo seine Lehre als Mechaniker. Damals, in den 1950er-Jahren, kurvte er auf seiner ersten Gilera um die Wette und schraubte an Maschinen von Rennprofis herum. Die alte rote Gilera – «ein richtiger Spaghetti-Töff» – steht jetzt neben vier weiteren in der Werkstatt. «Das sind meine ,Schätzelis‘», sagt Bruno, der alles sammelt, was ihm in die Hände kommt. Die meisten dieser Maschinen hat er bereits günstig verkauft, wie fast alles andere auch. Nur der rote Ducati, der komme zu ihm nach Hause, «in mein privates Museum».

Immer genügend Zeit fürs Soziale

Noch geht es in der Werkstatt jedoch geschäftig zu und her. Die Kunden sind gekommen, um ein letztes Mal in Andrenaccis Reich einzutauchen: Ein Reich, in dem Gott Italiener ist und einen Motor hat. Wo inmitten von alten Gefährten, Schrauben, Pneus, Velosätteln und Ferraribildern gelacht und gescherzt wird, wo nicht nur der Motorschaden der Vespa, sondern auch der Kummer mit der Liebsten und die Sorgen wegen des leeren Portemonnaies diskutiert werden. Tagsüber nahm sich Andrenacci jeweils Zeit «fürs Soziale». Zum Plaudern, zum Sprücheklopfen und Zuhören. «Arbeiten musste ich dann halt in der Nacht.» Er schaute dabei nicht auf die Uhr und schraubte etliche Stunden, ohne sie in Rechnung zu stellen – «Hauptsache, ich konnte es flicken». Schrauben und flicken wird Andrenacci weiterhin: in einer Mini-Werkstatt in Gümligen. Zum Spass und um den Kontakt mit den vielen «Kindern», die nun erwachsen sind, zu pflegen, sagt er und betrachtet die gepackten Bananenschachteln. Den Stapel mit den Formel-1-Heften und die Schmetterlinge, die mit farbigen Flügeln aufgestochen in einem Rahmen an der Wand hängen.

Text: Manuela Ryter
Dieses Porträt erschien am 11. August 2007 im "Bund".​

Anflug auf Bern via «Hotel Whisky»
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Mit dem Heli fliegt Pilot Nicolas de Sinner Lasten auf Hochhäuser oder zu Alphütten - und überblickt Stadt und Land von oben.​

Von oben betrachtet ist die Menschheit plötzlich ganz klein, sagt Pilot Nicolas de Sinner. Mit der Crew der Heliswiss transportiert er Masten, Klimaanlagen, Antennen, Holz oder auch Tiere mit dem Helikopter durch die Lüfte und setzt sie millimetergenau wieder ab - auf dem Bahnhofturm in Bern oder in den Alpen.​

​Mit leisem Surren setzen sich die Rotoren in Bewegung. Wie Schwerter zerschneiden sie die Luft, immer schneller und schneller. 50- 100-, 200-, 400-mal pro Minute. Nun dröhnt es im Innern des Helikopters auf der kleinen Flugbasis der Heliswiss beim Flughafen Gruyères. Nicolas de Sinner setzt sich den Gehörschutz auf, testet das Mikrofon. Vor ihm leuchten unzählige Lämpchen, er kntrolliert jedes einzelne, jede Anzeige, jeden Knopf. «Also, los gehts», ruft er, und seine drei Flughelfer steigen in den ratternden Helikopter. Die Maschine des Typs Écureuil hebt ab, sanft und leicht wie ein Spielzeug, von Kinderhand durch die Lüfte getragen. Die erste Mission der Crew: Auf dem Weg nach Köniz und Bern, wo mehrere Aufträge anstehen, warten auf einer Alp drei Paletten mit Baumaterial auf den Transport ins Tal. 

Ein Lächeln liegt auf Nicolas de Sinners Lippen. Er blickt hinunter auf die Erde, auf die Felder, die in einem riesigen Mosaik die Häuser umkreisen. Dunst liegt über dem Greyerzersee, doch im Tal Richtung Schwarzsee, in welches der Pilot steuert, leuchten die Wiesen und Wälder bereits in der Morgensonne. Am Morgen sei die Stimmung am schönsten, sagt er - auch wenn jeder Flug einzigartig sei, egal zu welcher Tageszeit oder bei welchem Wetter. ​De Sinner mag es, die «wunderschöne Landschaft» von oben zu betrachten. Die Zeit dazu findet der 51-Jährige jedoch nur auf Überflügen. Sonst ist er jeweils so konzentriert bei der Arbeit hoch oben am Himmel, dass er keine Zeit hat für die Welt, die ihm zu Füssen liegt.

Im Nu vom Flugplatz auf der Alp

Der Helikopter schwebt nun 300 Meter über Boden. Doch die Erde erscheint nah im heli, der vorne fast nur aus Plexiglas besteht - für eine perfekte Sicht auf die Lasten. Seit 30 Jahren fliegt de Sinner in den rotweissen Helikoptern der Heliswiss Lasten durch die Lüfte, transportiert sie an Orte, wo Lastwagen zu gross und Krane zu klein sind, um hinzugelangen: Er setzt bei Alphütten Waren ab, er transportiert frisch gefällte Bäume aus dichten Wäldern, er platziert Antennen auf Hochhäuser und setzt Masten zusammen, über die später Luftseilbahnen die Berge hochrattern. Und nicht selten fliegt er Kühe am 50 Meter langen Seil durch die Luft, um sie einzeln von der Alp ins Tal zu bringen.

Beim Helifliegen werde er wieder um kleinen Bub, sagt de Sinner. «Der Heli ist für mich wie ein grosses Spielzeug.» Er habe das Bild noch vor sich, wie er als Kind zum ersten Mal einen Armeeheli sah: Wie er übers Feld rannte, bis er ganz nah war, fasziniert vom Ungetüm, das vom Boden abhob und ganz ruhig in der Luft schwebte. Doch erst Jahre später, als er im Fernsehen Reportagen über eine Rettung an der Eigernordwand sah, dachte er an seinen Bubentraum zurück. 

«Hier irgendwo sollte die Hütte sein», sagt de Sinner zu seiner Crew und kreist um eine Alphütte auf dem Grad beim Schwyberg. Dann erblickt er die winkenden Menschen, steuert auf sie zu, sinkt und landet. Gras wirbelt durch die Luft, die Flughelfer steigen aus, rennen gebeugt aus dem Radius der Rotoren hinaus, die im unebenen Gelände gefährlich tief drehen. Der Pilot bringt «schnell» einen Passagier nach Schwarzsee, während die Crew Seile um die mit Blachen bespannten Paletten bindet. Die plötzliche Stille und Einsamkeit der Berghütte in der Morgensonne ist bizarr: so abgeschieden und doch nur wenige Flugminuten vom Flugplatz entfernt. Bald erscheint der Heli wieder am Himmel, um die Lasten abzuholen - mit dem ratternden Geräusch, das ans Skifahren erinnert. An gebrochene Beine und schmerzverzerrte Gesichter.

Himmel über Bern ist kontrolliert

​Mit der Crew an Bord hebt de Sinner wieder ab, in leichtem Sturzflug und mit enger Kurve, bis er wieder an Höhe gewinnt. Es ist wie Achterbahnfahren, nur sanfter  und eindrücklicher. Von oben sieht die Welt wieder ganz klein aus: Ein winziges gelbes Postauto kriecht in den Hügeln von Guggisberg die Kurven empor, die mächtigen Bauernhäuser sind zu kleinen Flecken geschrumpft. Die Idylle ist perfekt. Der Heli fliegt am Gantrisch vorbei, am Horizont erscheint bald die Gurtenantenne und weiter hinten der Sendeturm auf dem Bantiger. 

«Inbound Hotel Whisky», meldet de Sinner dem Tower von Bern und gibt damit seine Position - im Westen von Bern - durch. Das ist Pflicht, denn der Himmel über Bern wird kontrolliert: Jeder, der in die Kontrollzone fliegen will, muss sich beim Tower melden. Berns Süden heisst «Sierra», der Norden «November» und der Osten «Hotel Eco». In der Helisprache, um Missverständnisse zu verhindern.

Flughafen Belp: De Sinner startet «zur neuen Mission» beim Gymnasium Lerbermatt in Köniz. Eine neue Lüftung muss aufs Dach. Hier ist eine neue Crew zuständig, die drei Flughelfer aus Gruyères fahren im Auto bereits zum nächsten Arbeitsort: Bahnhof Bern, Postautoperrons. Auf dem Bahnhofturm muss das neue Funksystem der Kantonspolizei installiert werden. Die Lastwagen sind schon da: Die Flughelfer binden die Funkanlagen mit Seilen ein oder hüllen sie gekonnt in riesige Netze. Alls muss schnell gehen, denn schon bald ist ein roter Punkt am Himmel zu sehen, der immer näher heranschwebt, das lange Seil hinter sich herziehend. Flughelfer Marco Sartori steht auf dem Bahnhofturm, wartet und betrachtet das Rundpanorama: das Münster, die Universität, das Geleisewirrwarr. Menschen, die aneinander vorbeihetzen. Dann geht es Schlag auf Schlag: Der Helikopter schwebt über dem Funkkasten unten bei den Postautos und sinkt, genau nach den Anweisungen der Crew. Diese sei ebensowichtig wie der Pilot, sagt de Sinner später: «Lastenfliegen ist Teamwork, bei dem nur einer die Lorbeeren trägt.»

Der Traum vom Fliegen

Von unten ist ein weisser Punkt im Heli zu sehen: der Helm des Piloten, der sich konzentriert in die Bubble-Door lehnt. Wie ein Fischauge klebt diese Ausbuchtung an der Scheibe des Helikopters - sie erlaubt dem Pilot freie Sicht nach unten. Die Fracht wird eingehängt und der Heli zieht sie hinauf, als wäre sie leicht wie ein Lego-Stein.​ Der Heli werde mit der Last schwerfällig, sagt de Sinner. Wie ein Auto, das einen Berg hinaufkeucht. Für schwere Lasten - der Écureuil schafft maximal 1,2 Tonnen - sei deshalb Erfahrung und Fingerspitzengefühl wichtig: Denn sonst kann die Last gefährlich ins Schlingern geraten.

Doch jetzt sitzt jeder Griff, sowohl im Heli wie auch am Boden. Der Helikopter ​schwebt majestätisch über der Crew, der Funkkasten sinkt ruhig und langsam. «Noch zwei Meter. Noch einen Meter. Noch 50 Zentimeter. Noch 20 Zentimeter. Es passt», gibt Sartori dem Piloten durchs Mikrofon durch. Die Last wird platziert - millimetergenau. Der 24-jährige Tessiner hängt den riesigen Haken aus, und schon ist der Heli wieder weg, bereit für die nächste Ladung. Die Passanten in den Strassen halten inne und sehen sich das Spektakel an. Helikopter verkörpern noch heute den grossen Traum vom Fliegen. Den Wunsch, den Himmel wie ein Vogel zu erobern. Im Heli fühle er sich frei, sagt Sartori, der selber fliegt und davon träumt, Lasten zu transportieren. Im heli gebe es Action. Man könne hinfliegen wohin und landen wo man wolle. «Im Flugzeug hat man diese Freiheit nicht.» Im Heli fühle er sich wie ein kleiner Astronaut - am Boden jedoch werde er in seiner Arbeiterkleidung kaum beachtet.

Zivilisation wird zur Märklin-Welt

Wie eine Mondlandschaft sieht es neben dem Burgerheim aus, wo riesige Bagger den Neufeldtunnel in die Erde graben. Auch hier wird das neue Polizeifunksystem platziert. Danach eilen Marco und seine Leute in den Gäbelbach, de Sinner wartet im Neufeldstadion, trinkt Kaffee und fliegt los, sobald die Crew parat ist. Jedes Detail dieses Arbeitstages ist durchgeplant. Sonst wird es teuer: Eine Flugminute kostet mindestens 39 Franken. ​De Sinner fliegt nun über die farbigen Häuser in der Länggasse, über das leuchtend blaue Schwimmbecken im Weyermannshaus. Von seinem Arbeitsplatz aus überblickt er die Welt.

Nach der Arbeit über den massiven Hochhäusern führt ihn die Arbeit zurück nach Köniz, nach Belp und dann nach Muri. Am Nachmittag wird er das gleiche Funksystem bei Château-d'Oex auf ein Hochhaus fliegen, einen 1,2 Tonnen schweren Masten auf dem Col des Mosses montieren, schwere Steinziegel auf dem Dach eines Chalets in Villars abladen und Holz auf einer Alp bei der Gummfluh abholen. De Sinner kennt jeden Gipfel, jede Bergkette, jedes Tal. Distanzen werden relativ, aber auch die Menschheit: «Am Boden meinen wir Menschen, wir seien das Zentrum der Welt», sagt der Pilot. Aus der Luft aber werde der Mensch ganz klein: «Die Zivilisation wird zu einer Märklin-Welt, winzig und unbedeutend.» Nur 300 Meter über Boden veränderten die Sicht auf die Welt: Von hier aus seien Natur und Landschaft, Berge und Wälder mächtig, nicht der Mensch.

Text: Manuela Ryter

Diese Reportage erschien am 30. Juli 2007 im "Bund".​

«Für mich gibt es nur Badminton»

Jeanine Cicognini hat ihre Schweizer Konkurrentinnen – und die Schweiz – längst hinter sich gelassen. Für die 20-jährige Walliserin, grösste Schweizer Badminton-Hoffnung aller Zeiten, gibt es nur eines im Leben: den Sport. Und für den gibt sie alles.

Jeanine Cicognini, im Februar wurden Sie zum vierten Mal in Folge Schweizermeisterin im Einzel, und am Swiss Open gewannen sie heuer einen Match gegen eine Weltklassespielerin – für Schweizer Verhältnisse ein aussergewöhnlicher Erfolg. Was kommt als nächstes?

Jeanine Cicognini Dieses Jahr ist jedes Turnier wichtig. Im Mai hat die Qualifikation für die Olympischen Spiele in Peking 2008 begonnen, und Peking geht über alles. Ich bin zufrieden: Ich bin die Nummer 1der Schweiz und momentan die Nummer 66 der Weltrangliste. Um in Peking teilzunehmen, brauche ich ein Ranking zwischen 60 und 70. Im Moment sieht es also gut aus. Aber ich muss dran bleiben – schliesslich will ich nicht den zweitletzten Qualifikationsplatz. 

Erfolg bedeutet Ihnen alles. Woher kommt dieser Ehrgeiz?

Mein Ehrgeiz ist riesig. Aber nicht grösser als bei den anderen Spielerinnen, mit denen ich im Olympiastützpunkt in Saarbrücken wohne und trainiere. Sie alle sind die Nummer 1 ihres Landes. Ohne diesen Ehrgeiz könnte man niemals zwei Mal pro Tag so hart trainieren.

Waren Sie schon immer so ehrgeizig?

Nein, überhaupt nicht. Als ich mit acht oder neun Jahren mit Badminton anfing, war ich das faulste Kind, das es gab. Ich joggte nicht gerne und war unmotiviert. Einzig Matches spielte ich gerne. Zielgerichtet trainierte ich erst ab 13 oder 14. Als ich dann merkte, dass ich viele Spiele verlor, weil ich keine Kondition hatte, konnte auch ich mich fürs Lauftraining motivieren. Heute jogge ich bis zum Umfallen, denn die Kondition ist nach wie vor mein Manko.

Nun sind Sie Badminton-Profi. Und dies, obwohl Badminton in der Schweiz ein Mauerblümchendasein fristet. Wie haben Sie das geschafft?

Erstens: Weil ich das unbedingt wollte. Und zweitens: Weil ich mit16 den Schritt wagte und von Brig nach Dänemark zog. Das war sehr hart für mich, aber ich wollte nicht stehen bleiben. Die Trainingsbedingungen in Dänemark waren nicht vergleichbar mit jenen in der Schweiz. In Saarbrücken ist es noch einmal eine Stufe härter. Für andere Schweizer Spieler war alles andere gleich wichtig wie der Sport: die Schule, Freunde, Freizeit. Für mich nicht. Für mich gab und gibt es nur Badminton.

In der Schweiz haben Sie längst alle Konkurrentinnen hinter sich gelassen. Mit Ihrem Namen verbindet man die Hoffnung, dass Badminton endlich den Durchbruch schafft. Wie gehen Sie mit diesem Druck um?

Ich spüre keinen Druck. Ich trainiere für mich selbst und es macht mir unheimlich Spass. Für mich ist Badminton immer noch ein Hobby. Ich sehe mich auch nicht als Vorbild. Es gibt noch so viele bessere Spielerinnen.

Im Olympiastützpunkt soll der europäische Nachwuchs unter asiatischem Drill zur Weltklasse gebracht werden – gegen die Dominanz der Asiaten. Wie sieht Ihr Alltag in Saarbrücken aus?

Von 8 bis 17 Uhr wird trainiert, gegessen, zwischendurch geschlafen. Das Training ist extrem hart und alles läuft sehr professionell. Wer einen schlechten Tag hat, sollte das besser für sich behalten – man muss immer hundert Prozent Einsatz geben.

Bleibt da noch Zeit für sich selbst? Für Freizeit und Freunde?

Nicht viel. Am Abend muss ich für meine Ausbildung als Fitnessfachwirtin lernen. Manchmal gehen wir danach Essen oder ich schaue mir einen Film auf DVD an. Das ist für mich in Ordnung. Ich habe eine andere Einstellung als die meisten Jugendlichen. Ich vermisse es nicht, jeden Tag in den Ausgang zu gehen und zu trinken. Ich erlebe hier viel schönere Dinge, die andere in meinem Alter nie erleben.

Zum Beispiel?

Etwa die vielen Reisen. Diesen Sommer spiele ich in Afrika, Neuseeland, Australien, Malaysia. Wir sehen uns jeweils die grössten Sehenswürdigkeiten an, in China reisten wir zur Chinesischen Mauer. Oder das Gefühl, wenn man gewinnt – das ist unbeschreiblich. Man fühlt sich so leicht, so zufrieden. Man hat etwas erreicht, wofür man hart gearbeitet hat. Das kompensiert alles, worauf man verzichtet hat. In diesen Momenten weiss ich wieder, weshalb ich so hart trainiere.

Und bei Niederlagen? Haben Sie da Freunde, die sie trösten?

Niederlagen sind hart, auch wenn sie manchmal gut sind um zu sehen, woran es noch fehlt. Rückhalt erhalte ich in solchen Situationen eher vom Trainer, weniger von Freunden – auch wenn ich in Frankfurt zwei sehr gute Freunde habe. Hier im Zentrum sind die Spielerinnen Konkurrentinnen. Von ihnen kann ich nach einer Niederlage keinen Trost erwarten. Das ist manchmal hart, aber man darf sich mental nicht fertig machen. Schliesslich ist es super, dass ich hier Konkurrenz habe, damit ich immer das Ziel vor Augen habe. Das wäre in der Schweiz anders.

Und die Liebe?

Die ist an der Distanz zerbrochen. Für dieses Jahr habe ich mir fest vorgenommen, single zu bleiben. Jetzt zählt nur noch Peking.

Dieses Porträt erschien am 14. Juni 2007 im swiss sport 5/07, Magazin von Swiss Olympic. ​

Text: Manuela Ryter

Milizgemeindepolitiker sind am Anschlag
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Viele kleinere Gemeinden stossen mit dem Milizsystem in der Politik an Grenzen - dies sei eine Frage der Organisation, sagt der Experte

Zu grosse Arbeitsbelastung, zu kleine Entschädigung, kaum Ansehen in der Bevölkerung - viele Gemeinden sind mit dem Milizsystem am Anschlag. Braucht es Professionalisierung? Oder wird zu viel gejammert? Ein Blick in die Region.

«Viele Gemeinden stossen mit ihren Milizpolitikern allmählich an Grenzen», sagt Vechigens Gemeindepräsidentin Eva Desarzens (fdp). Mit dem Milizsystem erklärt sie denn auch den momentanen Missstand in der Vechiger Verwaltung und im Gemeinderat, den Walter Schilt (svp), der am 10. Dezember gegen sie zur Wahl ums Gemeindepräsidium antritt, im Vorfeld der Wahlen wiederholt beklagt hat. Tatsächlich steht in Vechigen nicht alles zum Besten: Die Gemeindeschreiberin hat wegen Überbelastung gekündigt und auch ihre Stellvertreterin sucht sich nach verlängerter Probezeit eine andere Stelle. Auch Gemeinderätin Irène Amacher (svp) tritt auf Ende Jahr zurück - ebenfalls wegen des Arbeitspensums. Bereits in vergangenen Jahren sind in Vechigen mehrere Gemeinderäte wegen Arbeitsüberlastung zurück- getreten. Als Milizpolitiker stosse man in aussergewöhnlichen Situationen schnell an Grenzen, sagt Desarzens - so sei die Erkrankung des im Juli verstorbenen Gemeindepräsidenten sehr belastend gewesen. Dies habe sich auf die Verwaltung ausgewirkt.

Politik als Ehrenamt

Vechigen steht mit Personalverschleiss und Überbelastung der Exekutivmitglieder nicht alleine da, wie der Blick in die Region Bern zeigt - für viele Gemeinden ist das traditionelle Milizsystem ein Problem, immer mehr Gemeinderäte treten vorzeitig ab, der Druck zur Fusion wird grösser: Stettlen etwa befindet in einer Woche über die Lohnerhöhung des Gemeindepräsidenten, nachdem eine Erhebung die «starke zeitliche Belastung für viele berufstätige Milizgemeinderatsmitglieder» aufgezeigt hat. In Frauenkappelen stellte sich Gemeindepräsident Cristoforo Motta (fw) vor zwei Jahren nicht aus Ehrgeiz zur Wahl, sondern weil niemand sonst bereit war, das Amt zu übernehmen. Und auch Konolfingen ist laut Gemeindepräsident Peter Moser (svp) «klar am Limit»: Die Belastung für Milizpolitiker sei enorm, die Verwaltung «am Anschlag». Er selbst sei rund drei Tage pro Woche für die Gemeinde im Einsatz: «Das kann sich nur leisten, wer in einer so privilegierten Lage ist wie ich», sagt der Unternehmer. Er hat das Geschäft seinem Sohn übergeben, um sich «voll auf die Politik» zu konzentrieren - für eine Entschädigung von 32 000 Franken. Eine bessere Entlöhnung bringe nichts, sagt er: «Wir machen Politik, weil wir etwas bewegen wollen, nicht wegen des Geldes.» Man müsse vielmehr der Verwaltung mehr Kompetenzen geben. Dies sei politisch jedoch kaum durchsetzbar: «Die Bürger wollen, dass die Politiker Politik machen, nicht die Verwaltung.»

Anforderungen steigen

Vor ähnlichen Problemen steht auch die doppelt so grosse Gemeinde Münchenbuchsee: «Die Gemeinderäte sind am Anschlag», sagt Vizegemeindepräsidentin Elsbeth Maring-Walther (sp) - doch jeder Versuch, der Verwaltung mehr Kompetenzen zu geben, werde von der Bevölkerung bachab geschickt, zuletzt das New-Public-Management-Projekt. Die Diskussion müsse jedoch wieder geführt werden, denn die Anforderungen seien gestiegen, weshalb «gewisse Geschäfte nicht kompetent genug angepackt werden können, wenn der zuständige Gemeinderat Vollzeit arbeitet». Ihrer Meinung nach sollten Gemeinderäte deshalb entlöhnt werden: «Sonst machen künftig nur noch Leute Politik, die Zeit haben, und nicht jene, die das nötige Know-how mitbringen.» Schon jetzt sei es für die Parteien vor den Wahlen schwierig, die Listen zu füllen.

«Eine Frage der Organisation»

Er könne diese Klagen nicht bestätigen, sagt indes Bernhard Lauterburg (fdp), Gemeindepräsident in Bremgarten: Zwar habe man sich «wegen der Arbeitsbelastung» gegen die Verkleinerung des Gemeinderates ausgesprochen. Bisher hätten sich jedoch immer kompetente Leute gefunden, «die diese Belastung auf sich nehmen wollen». Seiner Meinung nach sei ein vollamtliches Präsidium für Gemeinden unter 15 000 Einwohnern unnötig. Auch in Belp, Münsingen und Worb heisst es, das System funktioniere gut und die Gemeinden seien gross genug, um engagierte Leute zu finden - allerdings wurden hier bereits Massnahmen ergriffen. Auch laut Margret Kiener Nellen (sp), halbamtliche Gemeindepräsidentin in Bolligen, «ist die Arbeitslast für Gemeinderatsmitglieder im Milizsystem zumutbar, wenn die Verwaltung richtig besetzt ist». Dies bestätigt Politologe Andreas Ladner: Das Milizsystem sei ein anhaltendes Problem, es sei jedoch «eine Frage der Organisation»: Ein guter Gemeindeschreiber sei das A und O. Das Phänomen habe jedoch viele Ursachen. Dabei sei das Milizsystem sehr volksnah, auch es gehe nicht nur um Macht: «Es ist das Sozialkapital einer Gesellschaft.»

Text: Manuela Ryter

Dieser Artikel erschien am 25. November 2006 im "Bund".​

Im Zauber der Fremde
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Fotos aus fernen Welten - das Völkerkundemuseum Burgdorf zeigt die Erinnerungen des Heinrich Schiffmann

Er war jung, reich, reiselustig und krank - und seine Leidenschaft galt der Fotografie: Der Burgdorfer Heinrich Schiffmann reiste mit seiner Kamera jahrelang «zur Kur» über die Weltmeere. Und kehrte mit Schachteln voller belichteter Glasplatten zurück. Die Fotos sind nun im Schloss zu sehen.

Heinrich Schiffmann, geboren 1872 am Kreuzgraben in Burgdorf. Unter dem linken Auge eine Narbe, auf dem Oberarm eine Tätowierung. Es ist ein Anker. Ein Seemannsanker. Aber «Henri» Schiffmann war kein Seemann, wie die Angaben in seinem Pass zeigen. Er war der Sohn einer betuchten Burgdorfer Kaufmannsfamilie. Er war jung und reiselustig. Und er war tuberkulosekrank - damals ein Todesurteil auf Zeit. Die Meeresluft werde ihm gut tun, rieten die Ärzte. Und so machte er sich 1892 als 20-Jähriger auf nach England und Norwegen, im Auftrag der Käseexportfirma seines Grossvaters, die er dereinst übernehmen sollte.

Im Dampfer reiste er später um die Welt, einmal gegen Westen, einmal gegen Osten. Er umschiffte Südamerika und fuhr nach Afrika. Er besuchte Jerusalem und Kairo, Tokio und die Falkland-Inseln. Im Gepäck hatte er stets zwei schwere Holzkoffer mit einem Fotoapparat und den zerbrechlichen Glasplatten, auf denen er seine Abenteuer verewigte. Und er sammelte Fotografien, Bücher, Dias und ethnographische Gegenstände - Souvenirs, mit denen er die Exotik der Fremde in die Heimat brachte. Er reiste, bis er 1903 auf einer Wanderung auf La Réunion, einer französischen Kolonie im indischen Ozean, erkrankte. Eine Erkältung. Oder Malaria. Er sollte sich nie mehr davon erholen. Doch seine vielen belichteten Glasscheiben blieben erhalten - ein Teil von ihnen ist nun im Museum für Völkerkunde im Schloss Burgdorf zu sehen.

Abenteuerlust und Pioniergeist

Mit seiner ethnographischen Sammlung, die Schiffmann in seinem Testament dem Gymnasium Burgdorf vermachte, legte der reiche Burgdorfer Weltenbummler den Grundstein für das heutige Völkerkundemuseum Burgdorf - 500 der insgesamt 4500 Objekte sind von ihm. Mit der Sonderausstellung «Auf Glas gebannt» wendet sich das Museum nun erstmals Schiffmann selbst zu.

Neben seinen eigenen Fotos und Dias sind auch gekaufte Studiofotos und Erinnerungen, Karten, seine Kameras und auch ein Guckkasten, mit dem man «dreidimensionale» Glasstereodias sehen konnte, zu sehen. «Dass ein Kaufmannssohn viel reiste, war keine Besonderheit - das gehörte zum guten Ton», sagt Ko-Museumsleiterin Katharina Meyer. Die Händler schickten ihre Söhne hinaus in die Welt, sie sollten Fremdsprachen lernen und «weltläufig» werden für die Arbeit im internationalen Handel. Aber dass einer eine Fotoausrüstung mit sich trug, war nicht alltäglich. Und aus Schiffmanns Fotos ist ersichtlich, dass er nicht nur des Handels oder der Tuberkulose wegen auf Reisen war, sondern auch aus Abenteuerlust und Pioniergeist.

Neffe hortete die Fotos

«Er war ,gwunderig’ und fasziniert von den Völkern. Die Geografie zu inhalieren, sie kennen zu lernen - das war sein Fanatismus», erzählt Alfred Guido Roth. Er ist der Neffe Schiffmanns, leitete während Jahren die Burgdorfer Käseexportfirma, die dieser hätte übernehmen sollen, und wohnt im selben Haus am Kreuzgraben, in dem Schiffmann geboren wurde. Und als promovierter Historiker hat er Schiffmanns Reisen näher unter die Lupe genommen: Er recherchierte und ordnete zusammen mit seinem Vater, dem Bruder Schiffmanns, die 1600 Papierabzüge, 800 Dias und 200 Stereodias, die er nun zum Teil dem Völkerkundemuseum übergeben hat. «Er ist mir lebendig vor Augen», sagt der 93-Jährige. Schiffmann sei ein Weltenbummler gewesen, «aber im Grunde war er ein armer Kerl, gezeichnet von seiner Krankheit».

Fotos der «Wilden» als Souvenir

Was Schiffmann auf seinen Reisen erlebte und was ihn an der Fremde anzog, lässt sich nur erahnen. Denn Tagebücher und schriftliche Dokumente hat er kaum hinterlassen. Doch seine Fotosammlung zeigt, wie er die Welt erblickte. Ein Segelschiff vor den Küsten Chiles. Der Blick auf das Deck der Drittklasspassagiere. Eine Marktszene in Syrien, eine bevölkerte Strasse in Guadeloupe, spielende Kinder in Tunesien, eine Brücke in Shanghai.

Die kitschigen Fotos, die er sich in den Hafenstädten dazukaufte, zeigen gestellte Szenen mit traditionellen Menschen. Sie zeigen die «Wilden» in den fernen Welten, tamilische Frauen mit nackten Brüsten und Chinesen mit langen Zöpfen. Bilder, die längst nicht der Realität entsprachen, die Schiffmann zu Auge bekam. «Sie zeigen das Traumbild vom Fremden, das die Europäer damals hatten: romantisch und zugleich primitiv.», sagt Katharina Meyer. Als Souvenirs seien solche Bilder besonders beliebt gewesen. Und mit solchen wollte Schiffmann nach Hause kehren. Denn schliesslich war er kein Seemann. Sondern ein betuchter Kaufmannssohn mit Entdeckergeist.

Text: Manuela Ryter

Dieser Artikel erschien am 4. Juli 2006 im "Bund".

Blumenpflücker für die Zukunft
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Im Safiental ticken die Uhren langsamer. Abgelegen und idyllisch, gehört hier die Natur noch den Bauern und den Steinböcken. Doch für die Safier läuft die Zeit langsam ab. Die letzte Rettung heisst Tourismus. Wie ein Tal ohne Skilift, aber mit hohen Bergen um seine Zukunft kämpft.

Das Safiental beginnt im Postauto. Kurve für Kurve schlängelt sich der gelbe Bus aus der Rheinschlucht das Tal empor. Langsam und rumpelnd, über die schmale, schneebedeckte Strasse. «Wohin? Nach Safien?», fragt der Fahrer in breitem Bündner Dialekt und verzieht das Gesicht zu einem Grinsen, während er voll auf die Bremsen steht, damit das Postauto knapp vor dem Abgrund um die enge Kurve kommt. «Also nicht Berlin, nicht Paris?» Nein, Paris ist hier oben fast so weit entfernt wie der Mond.

Die Sonne. Knapp lugt sie über den hoch in den Himmel ragenden Felsmassen hervor, fast dreitausend Meter über Meer. Einst waren die Pässe, die das Walsertal in der Surselva eng umschliessen, der einzige Weg in die Aussenwelt. Doch das ist schon lange her. Oder doch nicht? Die Uhren ticken langsamer hier oben, sagen die Safier. Und bis die 30 Kilometer lange Holperstrasse durchgehend asphaltiert ist, dauert es mindestens noch 20 Jahre. Den Postautofahrer störts nicht, er zuckt mit den Schultern und pfeift gut gelaunt vor sich her. Draussen glitzert der Schnee in der Sonne, die Ställe der Viehzüchter thronen wie mächtige Burgen auf den Hügeln. Noch gehört die Natur hier oben Fuchs und Hase. Und den Bauern. Noch pflegen sie die saftigen Bergwiesen, die zur Schweiz gehören wie Heidi zum Peter. Und leben gut vom vielen Geld aus Bern. Aber vielleicht nicht mehr lange. Unrentable Bergregionen seien reine Geldverschwendung für die Schweiz, lassen die politischen Debatten im Flachland zugespitzt verlauten. Es sei an der Zeit, solche Täler zu entvölkern und der Natur zu überlassen. Für die Safier läuft die Zeit langsam ab. Es sei denn, die 1041 Einwohner zeigen, dass das Tal nicht nur um ihretwillen Millionen an Steuergeldern verschluckt - bedeutend mehr als andere Bergregionen. Die Losung heisst Tourismus. Doch eigentlich bleiben die Safier viel lieber unter sich.

Tourismus im Blut

Herz ist Trumpf. Maria Hunger-Fry hat aber kein Herz. Jedenfalls nicht in ihren Karten. Mit einem versöhnlich schnalzenden Laut wirft sie ihre letzte Karte auf den grünen, abgewetzten Jassteppich. Ein Versicherer, ein «Transpörtler», Safiens Jagdaufseher und ein Bauer, knochig und urchig, mit langem Bart wie aus dem Bilderbuch, sitzen mit ihr am Tisch. Gemütlich und gut gelaunt, im Rathaus, dem einzigen Gasthof im Ort. Safien Platz: Das sind ein Wasserkraftwerk, eine Schreinerei, ein Forstbetrieb und eine Schule. Der Arzt kommt einmal wöchentlich, die Coiffeuse kommt gar nicht mehr. Noch leben in der Gemeinde 350 Einwohner. Die Jungen aber ziehen nach Chur oder Zürich und kommen nicht wieder zurück. Dienstag ist Männerabend in Safien. Aber Maria, 49, gut aussehend und jung geblieben, hat hier lange genug gewirtet, um im gestandenen Männerkreis akzeptiert zu werden. In Safien hat sie einiges bewegt. Und weckt das Tal gemächlich aus seinem Schlaf.

Neue Wanderwege, Ferienwohnungen in alten Walserhäusern, eine Sauna im Schnee und Kartenmaterial für Tourenskifahrer und Wanderer, für Spurensucher und Wildforscher - das alles schwebt Maria Hunger-Fry vor. Keine Massen, sondern «sanfter Tourismus» soll sich in den vier kleinen Dörfern Versam, Valendas, Tenna und Safien etablieren: Biker, Eiskletterer, Kanufahrer und Spaziergänger - jene Leute eben, die sich auch ohne Skilift, Schneebar und Shopping-Mall beschäftigen können. Tourismus ist Maria Hunger-Frys Leidenschaft. Schliesslich ist sie Safiens Tourismusdirektorin - «ehrenamtlich, versteht sich». Mit Verbündeten gründete sie die IG Safiental Tourismus, lockte Künstler ins Tal und gestaltete die Webseite im Internet. «Wir leben nicht am Ende der Welt, sondern in einer der schönsten Ecken Graubündens», schreibt sie dort. Ein Aufruf an potenzielle Gäste, aber auch an die Safier, die potenziellen Gastgeber. Denn noch steht im Safiental jedes zweite Haus leer und keiner schert sich darum. Investiert wird in die Landwirtschaft und nicht in den Tourismus. Die Bauern - in Safien sind es 37 Betriebe, die jährlich mehrere Millionen Subventionen verschlucken - werden das Projekt Tourismus erst unterstützen, wenn ihnen das Wasser bis zum Hals steht. Der Spielraum ist jedoch klein - die Gemeinden sind verschuldet und Kredite benötigen eine Bewilligung vom Kanton.

Der Kampf ums Überleben geht harzig voran. Doch langsam lassen sich auch die Politiker dafür begeistern: Gemeinsam mit den Touristikern gestalteten sie den «Wegweiser Tourismus», einen Fahrplan in die Zukunft. Mit mehr Kooperation soll das Safiental zur Marke werden für Kultur, Natur und Erholung. Die Gäste sind begeistert - in den Ferienzeiten ist jedes Bett vergeben. Dazwischen aber ist es tot im Safiental. Das will Maria ändern. Ihre Visionen sind allgegenwärtig - sie plaudert beim Nachtessen in ihrem Bauernhaus über die Umnutzung eines Maiensässes und auf der Schneeschuhtour zu den Eisfällen zuhinterst im Tal über die Vermarktung einheimischer Produkte. Nebenbei macht sie Fotos, damit alle im Internet sehen, wie Bergführer Christian Zinsli an Pickeln und Steigeisen den vereisten Wasserfall hochklettert - in der Hoffnung, die Leute auf ein Abenteuer «gluschtig» zu machen. Beim Jassen im Rathaus allerdings kommt Tourismus nicht zur Sprache.

Heimat - ein Menschenrecht?

An der Wand des Gasthofs hängen alte Fotos mit stolzen Bauern und kräftigen Kühen. Sie erinnern schwarz auf weiss an die Zeiten, als Heimat noch ein unantastbares Menschenrecht war und niemand davon sprach, abgelegene Täler seien aufzuforsten zu Naturparks für Rehe und Abenteurer. Als Maria noch Fry hiess und nicht Hunger wie jeder zweite im Tal und der Tourismus nach St. Moritz gehörte und nicht nach Safien Platz.

Sie ist eine Aussteigerin, wie viele andere 68er auch. Die einen gingen nach Indien. Maria kam ins Safiental. Zuhinterst, dort wo sich das Tal öffnet und sich die steilen Bergwände vereinen, übernahm sie als junge Frau das «Turrahus», bewirtete Bergler, Blumenpflücker und Tourenskifahrer. Zwei, drei Jahre wollte sie bleiben. Doch die Rätoromanin verliebte sich in die schöne Landschaft und in Safiens Schreinermeister. Das war vor 25 Jahren. Ein wenig «anders» blieb sie bis heute. Aber leben und leben lassen war schon immer das Motto der Walser. Und so lässt man auch sie leben, sie und ihren Tourismus. Auch wenn manch einer im Dorf den Kopf schüttelt.

«Tourismus?», fragt ein junger Landwirt am Stammtisch, der mit dem «Manneturnverein» ein Bier trinkt und Erdnüsse knabbert. Auch er schüttelt den Kopf. «Wofür denn? Bis die Touristen hier sind, bin ich schon lange nicht mehr da.» Die Männerrunde lacht ob der Vorstellung, Touristenmassen im Safiental anzutreffen. Was wollen die hier oben schon machen? Skilift habe es schliesslich keinen. «Auf der Strasse langlaufen!», ruft einer und erzählt, wie ihm am Morgen ein «Auswärtiger» auf Langlaufskis entgegenkam, «mitten auf der Strasse»! Er sei eigentlich für das Präparieren der Loipe zuständig, sagt er und blickt flüchtig auf den Nebentisch, wo Maria Hunger-Fry lachend und jassend ihren Charme ausspielt. «Aber leider bin ich noch nicht dazu gekommen.»

Lamas für die Zukunft

In Safien braucht alles seine Zeit - auch der Tourismus. Das wissen Angelika und Erwin Bandli nur zu gut. Auch sie sind «Aussteiger», grün und bodenständig, kamen nach Safien, «um wieder die Natur zu spüren». Aber in ihren Ställen stehen keine Rinder, sondern tibetische Yaks. Kein Hund bewacht den Hof, sondern ein mongolisches Kamel. Dschingis ist sein Name. Und damit Angelika und Erwin auch im Safiental Fremde zu Gesicht bekommen, kauften sie sich Lamas. Mit gestressten Städtern laufen sie nun seit fünf Jahren die Pässe hoch und kommen mit entspannten Menschen zurück. Doch die Ruhe im Tal wirkt nicht immer: Beim Gedanken an «jene ignoranten Politiker, die nur in Zahlen denken und das Safiental als nicht lebenswert bezeichnen», zieht Angelika Bandli wütend die Augenbrauen zusammen. Gegen diese Wut hilft auch das Lama nicht viel, das die Ohren in den Wind streckt und schläfrig hinter ihr her trottet. Dank dem Lamatrecking muss sich die Familie nicht auf die Direktzahlungen verlassen. Nötig seien sie trotzdem: Auch der Tourismus habe keine Chance, wenn das Safiental entvölkert sei. «Und die Bauern pflegen schliesslich das, was Touristen hier suchen: Die alte alpine Kulturlandschaft.»

Das Ende der Welt oder eine der schönsten Ecken Graubündens? Mehr Tourismus soll im Safiental neue Perspektiven öffnen. Christian Zinslis Touren zu den Eisfällen am Safierberg und Kamel Dschingis ziehen schon heute viele Gäste an. Maria Hunger-Fry/Manuela Ryter

Infos

Detaillierte Informationen: www.safiental.ch oder Verkehrsverein Safien (081 647 12 09).

Anreise: ÖV: Rhätische Bahn Chur- Versam, dann Postauto. Auto: Über Bonaduz (N 13) nach Versam.

Übernachtung: Gasthäuser: Thalkirch: Turrahus (081 647 12 03), Safien Platz: Rathaus (081 647 11 06), Tenna: Alpenblick (081 645 11 23) und Versam: Rössli (081 645 11 13). Lagerhäuser: Thalkirch: Thaler Lotsch (081 647 11 07), Tenna: Waldhaus (081 645 12 02). Privat: Schlafen im Stroh, in Alphütten oder Ferienwohnungen, Ferien auf dem Bauernhof. Siehe Homepage/ Verkehrsverein.

Angebot: Eisklettern, Biken, Wandern, Bergsteigen, Ski-/Schneeschuhtouren, Schlittschuhlaufen. Bergführer: C. Zinsli (079 683 80 30) und W. Stucki (081 921 68 38). Lamatrekking: Ein bis vier Tage (081 647 12 05, www.bandli.ch). Riverrafting/Kanu: 081 645 13 24.

Internetcafé im «z’cafi» in Safien Platz. 

 

Text: Manuela Ryter

Diese Reisereportage entstand für den Graubünden Nachwuchspreis für Reisejournalisten und erschien am 21. Januar 2006 im "Bund". 

 

Zeichnerin der Angeklagten
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Gerichtszeichnerin Angela Zwahlen hält mit Bleistift und Papier Prozesse fest und gibt so auch Verbrechern ein menschliches Gesicht

Mit klaren Strichen und scharfen Konturen vermitteln Angela Zwahlens Zeichnungen den Zeitungslesern ein Bild aus dem Gerichtsaal. Ob Mörder oder Betrüger - die Bernerin zeichnet keine Monster, sondern ganz normale Menschen.

Angela Zwahlens letzte Zeichnungen aus dem Gerichtssaal sind noch präsent: Vier Jugendliche sitzen zwischen Polizisten auf ihren Stühlen und warten mit gesenktem Blick auf ihr Urteil - es sind die vier Postgasse-Täter, die im Mai 2003 in Bern einen wehrlosen Mann zusammenschlugen und schwer verwundet auf der Strasse liegen liessen. Ihre Gesichtsausdrücke, ihre Körperhaltung, ja gar kleinste Details ihrer Kleidung sind fein und präzise mit Bleistift festgehalten. Die Zeichnungen zeigen sie als normale Jugendliche. Sie sehen nicht aus wie brutale Schlägertypen, die mit den Schuhen auf den Kopf des Opfers eintraten und danach mit blutigen Kleidern in einer Bar auf die Tat anstiessen, während der Mann um sein Leben rang.

«Die meisten Täter sehen aus wie ganz normale Menschen», sagt Angela Zwahlen. Während wichtiger Prozesse sitzt sie für den «Bund» im Gerichtssaal und macht Verhandlungen «sichtbar», denn Fotografieren ist in Gerichten nicht erlaubt. Vielleicht lösen ihre Zeichnungen beim Betrachter gerade deshalb so viele Emotionen aus, weil sie nicht jene Monster darstellen, die man erwartet, sondern ganz normale Menschen. «Ich versuche, präzise zu zeichnen, denn ich will auch den Angeklagten gerecht werden. Ich will keine Täterprofile oder Karikaturen zeichnen - es ist nicht meine Aufgabe, jemanden zu verurteilen.»

Mitleid und Grauen

Die Bernerin Angela Zwahlen sitzt in ihrem Loft in Biel, das ihr und ihrem Partner als Atelier und Wohnraum dient. Neben ihrem weissen Arbeitstisch sind Farben und Maltuben ordentlich zusammengestellt, und auf dem Fenstersims stehen kleine, farbig gemalte Porträts von Wirtschaftsleuten - ein Auftrag für ein Wirtschaftsmagazin, erklärt Zwahlen. Seit sechs Jahren zeichnet die freischaffende Illustratorin auch im Gericht. «Die Arbeit fasziniert mich - ich beobachte und zeichne Menschen, die ich nicht kenne, und bekomme ihre Taten, aber auch ihre Lebensgeschichten mit», erzählt die 36-Jährige. Mitleid für Angeklagte, aber auch Grauen vor ihren Taten vermischten sich dabei häufig.

Angela Zwahlen sitzt oft stundenlang im Saal, in nächster Nähe der Angeklagten, beobachtet, skizziert und zeichnet. Zum Teil sei es ein langweiliges Prozedere, sagt sie. Viele Prozesse gingen ihr jedoch sehr nah. Manchmal zu nah, dann helfe nur noch Oropax: «Zum Teil erzählen sie grauenhafte Geschichten, schildern Details von einem Mord oder einem Sexualverbrechen. Dann wird mir unwohl, und ich ziehe mich zurück, sonst wird die Zeichnung ungenau und schlecht.»

Verkleidete Angeklagte

Zwahlen erzählt von ihren Erlebnissen bei den Prozessen, verschiedene Zeichnungen liegen verstreut vor ihr auf dem Tisch - sie zeigen gleichgültige Betrüger, nachdenkliche Mörder, unschuldig blickende Sexualverbrecher, aber auch Polizisten, Anwälte und Richter. «Manchmal frage ich mich, was sie wohl denken, wenn ich sie stundenlang beobachte und zeichne», sagt sie. Einige bemerkten sie gar nicht, anderen sei es sichtlich unangenehm. «Einmal begann ein Angeklagter plötzlich, mich abzuzeichnen», erzählt sie und zeigt auf die Zeichnung eines Mannes in Fussfesseln, der im Prozess von Damaris Keller vor Gericht stand. «Bei diesem Spielchen wurde mir unheimlich.» In einem anderen Prozess hätten angeklagte Polizisten Perücken und Brillen getragen. «Ich bemerkte erstaunt, dass die sich meinetwegen verkleideten, aus Angst, man könne sie auf den Zeichnungen erkennen.» Seither zeichne sie alle Polizisten im Gericht anonym und linear.

Interpretation der Wirklichkeit

Sie glaube allerdings nicht, dass man die abgebildeten Leute aufgrund der Zeichnungen wiedererkenne, sagt Zwahlen - auch wenn sie die Leute so naturalistisch wie möglich darstelle. «Sie sollen sich ähnlich sein. Aber eine Zeichnung ist nicht wie ein Foto - sie ist eine Interpretation der Wirklichkeit.» Eine Zeichnung sei auch keine Momentaufnahme, sondern entstehe fliessend - zwei bis drei Stunden arbeitet Zwahlen jeweils daran.

Dabei achtet sie besonders auf Klarheit und Präzision - auch Details wie Kleider, Uhren oder Frisur seien ihr wichtig, sagt Zwahlen. Hier kommt ihr die frühere Arbeit in einem Zeichentrickfilmstudio zugute. Auch wenn Zwahlen mit Strichen, Flächen und Konturen spielt - als Kunst bezeichnet sie ihre Gerichtszeichnungen nicht. Kunst brauche mehr Freiheit, sagt sie. Ein Anwalt sah das anders: Er fand ihre Zeichnungen vom Prozess gegen Werner K. Rey - ihrem ersten Prozess - so toll, dass er ihr die Originale gleich abkaufte.

Text: Manuela Ryter

Dieses Porträt erschien am 11. Oktober 2005 im "Bund".​

Von der Liebe zu Autos und Frauen
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Mit einem Tuning-Fan an der Auto-Emotionen-Messe in Bern.​

Violett schimmert Daniel Siegrists Auto. Das heisst, je nach Licht. Von hinten schimmert der tiefer gelegte Wagen mit dem futuristischen Heckflügel eher rötlich. Oder ist er blau? Kamäleon heisse diese Farbe - das sei ein Lack mit Goldstaub, 1000 Franken pro Liter, erklärt Siegrists Freundin Franziska Wernli. Sie ist Autolackiererin. Er ist Automechaniker. Das Auto war einmal ein blauer VW Vento 6 Zylinder. Nun ist der geheimnisvoll schimmernde Wagen ein Unikat. Genau wie all die anderen glänzenden, dröhnenden und tönenden Tuning-Autos auf dem Gelände der Auto-Emotionen-Messe an der BEA. Hier ging es drei Tage lang um breite Räder und verchromte Felgen, um Turbolärm und hämmernde Bässe. Und um Frauen. Doch dazu später.

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Ein richtiger Tuning-Freak kauft kein präpariertes Fahrzeug. «Ich habe die gesamte Carrosserie des Autos selbst zerlegt», sagt Daniel Siegrist und zeigt stolz seinen Wagen, den er als Besucher auf dem Ausstellungsplatz präsentiert. Er grüsst hier und dort, man kennt sich in der Szene. Der Kotflügel wurde verbreitert, damit die breiten Räder darunter passten. Siegrist schweisste auch eine neue Motorhaube an, wechselte Auspuff und Seitenspiegel für den Sportlook, entfernte alle Kennzeichen der Automarke. Auch Stossstangen und Seitenschweller seien neu, damit das Auto tiefer liege. Und im Innenraum fehlen natürlich auch die Sportsitze und eine 2500-Watt-Musikanlage mit Verstärker nicht. «Den Motor habe ich erst zum Teil verchromt», sagt Siegrist - ein Tuning-Auto sei nie fertig, da sei immer etwas zu verbessern. Er sei ein Perfektionist, «doch das geht ins Geld» - sechs Monate Arbeit und 25 000 Franken habe er bisher ins Aufpeppen dieses Autos investiert, sagt der 25-Jährige aus Reconvilier und lässt den Motor aufbrausen. «Ein schöner Lärm, nicht?» fragt er und lacht.

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Die Ausstellungshallen, in denen Tuning-Clubs ihre Wagen präsentieren und Firmen Felgen, Stossdämpfer und Hifi-Anlagen anbieten, hat sich Siegrist schon mehrere Male angesehen. Technobässe hämmern aus unzähligen Autoboxen und vermischen sich mit dem Stimmengewirr der Besucher - 22 000 waren es insgeamt, 7000 mehr als letztes Jahr. Es gebe nicht nur Sportwagen, sondern auch alte Autos, die getunt seien, sagt Siegrist und zeigt auf einen VW-Käfer. Schliesslich gehe es beim Tuning um schöne Autos und nicht um schnelle. «Rasen würde ich mit einem getunten Auto nie. Der Look ist wichtiger.» Man könne es aber auch übertreiben, sagt Siegrist und zeigt auf einen ausgestellten Wagen, der im Takt der Musik aufblitzt und den Boden blau beleuchtet. Ihm gefielen dezenter aufgepeppte Wagen besser. «Ich möchte lieber auf den zweiten Blick auffallen.» Aber jeder habe seinen Stil, sein eigenes Auto - das mache Tuning ja gerade so spannend.

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Liebe sei es nicht, die er für Autos empfinde, es sei eher Leidenschaft - «man liebt ja nicht Autos, sondern Menschen», sagt der Automechaniker und beobachtet, wie sich die Kandidatinnen der Miss-Auto-Emotionen-Wahl gerade auf den Formel-1-Wagen räkeln. Schöne Autos, schöne Musik und schöne Frauen, das passe zueinander, sagt er. Aber schliesslich zählten in der Liebe nicht nur äussere Werte. Beim Auto schon.

Text: Manuela Ryter

Dieses Feature erschien am 19. September 2005 im "Bund".​

Kinder, Küche und Karriere
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Drei Mütter wirken in der Leitung der Agentur Freiburghaus und Partner mit - ein Einzelfall in der Werbebranche

Das Kind auf dem Arm und die Präsentation im Kopf: Drei Frauen der Berner Werbeagentur Freiburghaus und Partner zeigen, dass mit Teamwork und viel Einsatz auch in der Werbebranche Kaderjob und Familie vereinbar sind.

Nächtelanges Tüfteln an der neuen Idee, unzählige Überstunden wegen der kommenden Präsentation, stete Verfügbarkeit für die Kunden: Wer in der Werbung arbeitet, tut dies voll und ganz - oder gar nicht. Der niedrige Anteil an Teilzeitarbeitenden in der Branche zeigt, dass am Klischee des Werbers als «Workaholic» etwas dran ist: Teilzeit ist in vielen Agenturen tabu, Frauen müssen sich deshalb oft zwischen Karriere und Familie entscheiden - gerade in der Werbebranche, in der Flexibilität gross geschrieben wird. Frauen mit Kindern sucht man in Kaderpositionen fast vergebens.

Dass es auch anders geht, zeigt die Berner Werbeagentur Freiburghaus und Partner. Inhaber und Creative Director Simon Freiburghaus arbeitet in der Geschäftsleitung mit drei Frauen zusammen, die neben Sitzungen auch Zeit für Hausaufgaben und Mukiturnen finden: Pascale Berclaz, Mutter von zwei Kindern, und Barbara Brügger, die gerade Mutterschaftsurlaub bezieht, beraten die Kunden und leiten die Produktion. Romy Freiburghaus ist für die Finanzen und das Personal zuständig - daneben betreut sie drei Kinder und arbeitet als Dozentin.

Das unkonventionelle Arbeitsmodell hat Erfolg: Die 1996 als Werbeduo Freiburghaus und Banderini gegründete Agentur hat heute 14 Angestellte und zählt zahlreiche grosse Firmen zu ihren Kunden, so zum Beispiel IP-Suisse, Novartis Consumer Health, Swiss Olympic Association, den Verband Schweizer Metzgermeister und das Stade de Suisse.

Teilzeit in Kaderjob unmöglich . . .

Dass das Arbeitsmodell der Berner Werbeagentur in der Werbebranche nicht üblich ist, bekamen die Frauen zu spüren: Als Romy Freiburghaus vor 14 Jahren ihr erstes Kind erwartete - sie arbeitete damals als Werbeleiterin -, hiess es: Vollzeit oder gar nicht. «Daraufhin habe ich gekündigt», erzählt die 41-Jährige. Hinter ihr prangt riesig ein Plakat, das eine unaufgeräumte Küche zeigt und mit dem Slogan «Schuhe zum Davonlaufen» für das Schuhhaus Botty wirbt. Auch heute sei Vollzeit in vielen Agenturen ein ungeschriebenes Gesetz, sagt Freiburghaus: «Das ist schade, denn so geht der Branche viel Know-how verloren.» Auch Pascale Berclaz bekam 1999, als sie trotz Kind den Kaderjob bei Freiburghaus und Partner annahm, von Berufskollegen zu hören, Teilzeit sei in dieser Position unmöglich. «Wir haben das Gegenteil bewiesen», sagt die zierliche, elegante Frau nicht ohne Stolz.

. . . oder Frage der Organisation?

Organisation und Teamwork, aber auch flachere Hierarchien seien das A und O. «Wenn wir nicht da sind, werden die Kunden von unseren Planern betreut», sagt Barbara Brügger - man müsse Verantwortung teilen und abgeben können und dem Team vertrauen. Pascale Berclaz bezeichnet das Arbeitsmodell als «Win-win-Situation», denn auch die Firma profitiere davon: «Sie bezahlt ein halbes Hirn und erhält ein ganzes.» In einer Führungsposition könne sie an Feierabend nicht den Stift ablegen und mit freiem Kopf nach Hause gehen: «Ich bin zwar physisch nicht immer anwesend, geistig aber hundertprozentig», sagt die 34-Jährige. Sie sei übers Handy jederzeit für ihre Kunden erreichbar, checke alle drei bis vier Stunden ihre E-Mails und denke sich mit dem Kind auf dem Arm und dem Kochlöffel in der Hand auch mal eine Idee für die neue Präsentation aus. Einzig wenn eine wichtige Präsentation anstehe - das sei etwa fünf- bis sechsmal im Jahr -, werde auch sie zum «Workaholic», «aber da wird die ganze Familie vorgewarnt», fügt sie lachend hinzu. Ihr Sohn schicke ihr jeweils ein SMS mit dem Text «Viel Glück Mami».

Das schlechte Gewissen

Die Doppelbelastung könne einen jedoch auffressen, sagt Pacale Berclaz. Das sei wohl auch der Grund, weshalb sich viele Mütter gar nicht auf eine leitende Funktion einliessen - «Agenturarbeit ist auch ohne Familie ein sehr stressiger Job.» Die grösste Herausforderung sei jedoch das «latent schlechte Gewissen». Gegenüber den Kindern, aber auch gegenüber dem Team. Berclaz erzählt, wie ihre kleine Tochter an diesem Morgen einen Schreikrampf hatte und partout nicht wollte, dass ihr Mami arbeiten geht. Oder von jenen Tagen, wo auf der Arbeit Stress ansteht und ausgerechnet dann ein Kind krank wird. In Krisensituationen komme das Kind an erster Stelle, sagen die drei Frauen einstimmig. Und auch wenn einmal nicht alles klappe, «Unverständnis von Seiten der Kunden gab es noch nie, im Gegenteil - sie zeigen jeweils Anteilnahme», sagt Berclaz.

Im gesellschaflichen Umfeld stossen die drei Frauen allerdings häufig nicht auf Verständnis; «Rabenmutter» und «karrieregeil» seien immer wieder gehörte Bemerkungen. «Und wenn in der Schule etwas nicht läuft, heisst es immer gleich: Die Mutter arbeitet», sagt Pascale Berclaz, die auf dem Land wohnt und ihre Kinder von einem Au-pair betreuen lässt. Das Problem sei, dass «die Solidarität unter den Frauen fehlt», sagt Romy Freiburghaus - gerade auch am Arbeitsplatz.

Die Frau und die Emanzipation

Angesprochen auf die Mitarbeit der Männer in der Familie, verstummen die Frauen. Das sei ein delikates Thema, sagen sie. Wenn ein Kind krank sei, bleibe sie zuhause, sagt Romy Freiburghaus. «Die Frauen sind heute emanzipiert - sie tragen aber nach wie vor viel mehr Verantwortung für Haus und Kinder», sagt Barbara Brügger. Die 33-Jährige teilt die Betreuung ihrer Tochter mit ihrem Mann. Man müsse «Männer mehr ins Gebet nehmen», sagt sie. Bei ihnen stosse die Forderung nach Teilzeit allerdings auf noch mehr Widerstand als bei Frauen.

Die Frau und die Werbung

Sie seien keine Quotenagentur. Und dennoch - Frauen tun der Branche gut, davon ist man bei Freiburghaus und Partner überzeugt: «Frauen haben viel Einfühlungsvermögen und ein gutes Gespür für Kunden», sagt Barbara Brügger. Ausserdem sei die Werbung «eine aufgeblasene Branche» - als Mutter nehme man die Dinge gelassener. «Wenn ich abends mein Kind schlafen sehe, relativiert sich der Stress um die Werbekampagne», sagt Pascale Berclaz. Das spiegle sich auch in der Werbung wider: «Wir wollen keine schreierische, sexistische Werbung mit dem letzten Humor machen. Sondern ehrliche.»

Auch Simon Freiburghaus ist überzeugt, dass die «exotische Führungsstruktur» mit den Frauen in der Leitung die Agentur präge. «Nicht weil sie Frauen sind, sondern wegen ihrer Doppelverantwortung in Job und Familie», sagt er. Sie setzten die Investitionen der Kunden pragmatischer und zielorientierter ein als andere Agenturen: «Wir schlagen einen Vernunftsweg ein. Wir wollen keine Werbung als ,l’art pour l’art‘. Und bleiben trotzdem authentisch.»

Text: Manuela Ryter

Dieser Artikel erschien am 6. September 2005 im "Bund".​

Keuchend den Alten Schyn hinauf
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BIKEN IN GRAUBÜNDEN

Nach jedem Aufstieg eine rasante Abfahrt, hinter jedem Berg eine neue Welt. Wer mit dem Bike durchs Bündnerland fährt, zieht an romantischen Auen vorbei, bezwingt steile Pässe und fährt durch malerische Dörfer. Nun soll der Gebirgskanton als Bikerhochburg vermarktet werden.

Es ist nicht nur das prächtige Schloss des SVP-Bundesrats, mächtig über dem Hinterrhein thronend, das den Bikertrupp zum Stoppen bringt. Es ist auch der Ausblick auf das sprudelnde, milchig-blaue Wasser, das in Rhäzüns über die Steine fliesst, es ist die kahle, steile Schlucht, es sind die tannengrünen Berge. Sie bieten eine lohnende Gelegenheit für ein erstes Ausschnaufen seit dem Beginn der Bike-Tour in Chur. Vier Tage soll die Reise dauern, quer durch die vielen Landschaften des gebirgigen Kantons.

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150 Täler zählt Graubünden, der flächenmässig grösste Kanton der Schweiz, und jedes davon hat seine eigene Landschaft und Geschichte. Diese Vielfalt macht das Bündnerland für den Biker interessant: Es gibt unzählige Pässe zu bezwingen, steile Abfahrten auf Schotterwegen oder schmalen Pfaden, Single-Tracks genannt, aber auch sanfte Wege entlang von Flüssen und Auen. Viel schneller als der Wanderer und doch in dessen Spur, kann der Biker inmitten der Natur in kurzer Zeit stattliche Distanzen zurücklegen. «So viele ungeteerte Strassen, Wander- und Forstwege gibt es in der Schweiz in kaum einer anderen Region», sagt Gerd Schierle aus Parpan, der als «Bike-Explorer» bekannt ist - unter diesem Label bietet er Tourenvorschläge, Infos und Bike-Karten an.

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Sanft führt der Weg ins hügelige Domleschg. Grasende Kühe beobachten mit gewohnter Gleichgültigkeit die keuchenden Biker. «Burgenland von Graubünden» wird das Tal genannt. Tomils, Paspels, Scharans - die schmucken Dörfer sind menschenleer, die Zeit scheint still zu stehen. Kein Laut ist zu hören, nur das Zirpen der Grillen und das Knirschen der Räder. Häuser und Menschen passen sich der Landschaft, ihrer Ruhe und Intensität, an.

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Wer mit dem Bike durch Graubünden fährt, kommt zwar auch wegen der Ruhe in den Bergen - sucht jedoch immer auch die Herausforderung: Er will Kilometer runterspulen, Höhenmeter bezwingen. «Viele Touren beginnen hier bereits auf 1000 oder 1500 Metern», sagt Schierle, «erst auf dieser Höhe wird es spannend.»

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Scharans liegt auf 760 Metern. Lenzerheide auf 1500. Fast bedrohlich ragt die Bergwand des Alten Schyn vor dem anfahrenden Biker in den Himmel. Der Weg wird steiler, schmaler und steiniger, im kleinsten Gang strampelt man in der brütenden Hitze langsam empor. Die Zeit, Schmetterlinge zu beobachten und die Landschaft zu bestaunen, findet man erst oben. Dieses Gefühl, den Gipfel erreicht und die Strapazen überwunden zu haben, ist es, was viele Biker überwältigt. Und dann die Abfahrt ins nächste Tal, in vollem Tempo den Abhang hinunter, das Fahrrad auf dem losen Geröll der Schotterwege balancierend. Einem Wanderer begegnet man so gut wie nie.

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Erstellt wurden die vielen Wege für Wanderer - erst in den letzten Jahren wurden sie von den Bikern erobert, was von der Wanderlobby nicht immer goutiert wurde. «Biken war bis vor einem Jahr ein rotes Tuch im Graubünden», sagt Claudio Duschletta von Engadin Tourismus. Das solle sich nun ändern, denn es komme fast nur im Tal zu Problemen zwischen Velofahrern und Spaziergängern, «in der Höhe gibt es kaum Konflikte».

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Von Lenzerheide führt der Weg auf schmalen Single-Tracks nach Alvaschein und ins Landwassertal, vorbei am berühmten, hundertjährigen Landwasserviadukt der Rhätischen Bahn. Man fährt durch tiefe Wälder, das Bike muss hier über einen Baumstamm getragen, dort über steile, verwurzelte Wegstücke gestossen werden. Wer schliesslich von Bergün ins Engadin gelangen will, hat die Wahl: Er nimmt die 900 Höhenmeter des Albulapasses unter die Räder - oder setzt sich zwischen die Touristen in der Rhätischen Bahn, die über viele Rundtunnels und Viadukte den Albula passiert: Die gemütliche Version, einen Pass zu überwinden.

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Nicht nur die Rhätische Bahn, die in fast allen Zügen Selbstverlad von Bikes anbietet, auch die Touristiker haben das Potenzial von Graubünden als Biker-Destination erkannt. Mit Bike-Karten, geführten und ausgeschilderten Touren, Bikeparcours, Downhillstrecken, GPS-Touren (Text unten), Rennen und Bike-Hotels wollen sie das Wanderparadies nun auch zur Bikerhochburg machen - in der Hoffnung, so den Sommertourismus anzukurbeln. Einzig die Bergbahnen machen nicht mit - viele Betreiber weigern sich, die sperrigen Bikes zu transportieren.

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Hinter dem Albula ist das Tor ins Oberengadin, in eine neue Welt - das Tal erstreckt sich mit sanften Steigungen von Pontresina nach Zernez, durch steile Bergketten hindurch. Ein Radweg dem Inn entlang führt an romantischen Auenseen vorbei, in denen sich die Berge spiegeln. Alte, schöne Häuser mit Sgraffito-Verzierungen stehen neben protzigen Ferienhäusern ohne Charme. Erst im Unterengadin in Lavin oder Guarda, Ardez oder Ftan findet man in die engen, malerischen Bündner Dörfer und zum sanfteren Tourismus zurück. Die Brunnen warten stets mit frischem Wasser - in Scuol sprudelt gar säuerliches Mineralwasser aus dem Dorfbrunnen.

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Biken boomt, und an Initiativen fehlt es nicht. Gute Karten und Infos zu Wegbeschaffenheit, Kondition- und Technikanforderung sind für den Biker von Auswärts ein Muss, denn nicht alle Wanderwege sind auch mit dem Bike passierbar. Zwar bietet die Dachorganisation «Graubünden Ferien» verschiedene Informationen an, doch der Individualbiker muss sich durch etliche Webseiten, Tourenangebote und Prospekte kämpfen - es sei denn, er fährt nach einem Führer, der Tourenvorschläge, Karten und Infos im Internet, als Buch oder auf DVD anbietet.

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Nicht nur um das Bike zu schonen verlässt man das Engadin wieder im roten Zug, diesmal durch den Vereina-Tunnel ins Prättigau. Hier ist alles grüner, die Berge sind hügeliger, die Häuser aus Holz, die Sprache wieder Deutsch. Und Chur rückt immer näher.


Zweittext:  

Mit GPS in die Berge

Biken fast ohne Karte - immer mehr Bike-Touren in Graubünden werden mit Navigationssystem angeboten

Wer seine Ferien in Lenzerheide mit Biken verbringen will, hat es einfach: Er sucht sich im Tourismusbüro oder Internet eine Tour aus, lädt sie für wenige Franken auf sein - oder das gemietete - GPS-Gerät und fährt los. GPS, kurz für Global Positioning System, ist Zukunftsmusik für den Biketourismus: Das Gerät ist nicht viel grösser als ein Handy, wird am Lenker befestigt und zeigt dem Biker via Satelliten Standort und Fahrtroute an - er muss einzig der roten, einprogrammierten Linie nachfahren. Regelmässiges Halten und Kartenlesen bei jeder Kreuzung gehört somit der Vergangenheit an, der Biker kann wortwörtlich «seiner Nase» nach fahren.

GPS ist im Grunde das Satelliten-Navigationssystem des US-Verteidigungsdepartements. 28 Satelliten kreisen um die Erde und senden Informationssignale aus. Das GPS-Gerät empfängt diese und errechnet so seine Standortkoordinaten aus - bei gutem Empfang bis auf 3 Meter genau. Was für Biker von Vorteil ist: Der virtuelle Führer berechnet auch zurückgelegte und noch zu bewältigende Distanz, Höhenmeter und Geschwindigkeit.

Der virtuelle Führer

Statt selber Touren zu planen und auf gut Glück abzufahren, bietet sich GPS also gerade für den ortsfremden Biketouristen an. Lenzerheide bietet insgesamt 20 Touren an, von einfach bis schwierig, von leicht bis anstrengend. Ausführliche Angaben zum Schwierigkeitsgrad der Route, Aussichtspunkten und Wegbeschaffenheit wird in einem handlichen Führer mitgeliefert. GPS-Touren werden auch in Savognin und im Münstertal angeboten, in anderen Bündner Ferienorten wird das Angebot aufgebaut. GPS-Touren sind auch im Internet herunterladbar, Vorsicht ist jedoch geboten bei Anbietern, die ihre Tourenvorschläge nicht selber abgefahren sind.

«GPS ersetzt die Karte nicht»

So einfach das System ist - es darf nicht überschätzt werden, sonst steht man bald ratlos an der nächsten Kreuzung. «Wer GPS benutzt, muss wissen, was es kann und was es nicht kann», sagt «Bike-Explorer» Gerd Schierle, der seit 15 Jahren Biketouren recherchiert und diese nun auch als GPS-Touren anbietet. «Wenn es regnet, hat man im Wald keinen Empfang», sagt er. Schlecht sei der Satellitenempfang auch in Schluchten oder an Hängen mit steiler Neigung, «da ist man schnell einmal um 30 Meter verschoben». Nicht zu vergessen sei auch ein möglicher technischer Defekt oder ganz einfach leere Batterien. «GPS wird immer nur ein Zusatzhilfsmittel sein, die Karte ersetzt es nicht», sagt der ehemalige Profirennradfahrer und -biker. Er sieht denn auch eine Gefahr, wenn unerfahrene Touristen per GPS durch Berge und Wälder kurven. Denn wenn das Gerät versagt, können sie froh sein, wenn sie den Weg zurück wiederfinden.

Infos für Biker

Bike-Touren: www.graubuendenferien.ch; Biken o. Gepäck: engadinferien.ch, daroserheide.ch; Gourmet-Tour: bike-gourmet-tour.ch; rad-bike-arena.com; Nationalpark-Bike-Tour/Wellness-Tour: scuol.ch.

Bike-Führer: bike-explorer.ch (Graubünden, Top of Graubünden, Mittelbünden, Unterengadin); Veloland Schweiz (Band 6); MTB-Bikeführer von Vital Eggenberger; Cycline MTB-Guide Engadin.

Bike-Karten: graubuendenferien.ch, biketrailmap.ch.

GPS-Touren: bikerheide.ch, bike-explorer.ch. Miete GPS: 25 Franken.

Bike-Hotels: Mit Bikekeller, Werkstatt, Bikernahrung, Wäscheservice: bikehotels.ch, Lenzerheide: bikerheide.ch, Scuol: bellaval-scuol.ch, Pontresina: sporthotel.ch.

Bike-School: frischibikeschool.ch

Bike-Park: In Samedan und Scuol.

Bike-Events: Swisspower Cup, Samedan, 20.-21. Aug.; Nationalpark Bike-Marathon, Scuol, 15. Aug.

Bike-Transport: Tageskarte RhB: 15/10 Franken (o./m. Halbtax).

Text: Manuela Ryter

Diese Reisereportage erschien am 11. Juli 2005 im "Bund". 

 

Wenn Amors Pfeil durchs Netz schiesst...
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. . . trifft er nur gelegentlich - wie im richtigen Leben auch: Partnersuche via Internet boomt, beglückt und bricht einsame Herzen

Unzählige Singles suchen im Internet die grosse Liebe. Ob sie sie auch finden, hängt jedoch nach wie vor vom Zufall ab. Yuly und Andreas Kohli haben sich im Netz gefunden. Claudia Meyer zieht ernüchtert Bilanz.

Es begann am 26. Juli 2001. Andreas Kohli, wohnhaft in Niederwangen und seit einem halben Jahr Single, surfte im Internet, hielt Ausschau nach einer Partnerin. Es war sein 30. Geburtstag. Auf amigos.com stiess er auf eine «bezaubernde» Frau mit dunkelbraunen Augen und sanft gewelltem Haar. Er klickte ihr Lächeln an. Profil: Kolumbianerin, Verwaltungsangestellte und - genau wie er - am 26. Juli 1971 geboren. Er schrieb ihr ein Mail und gratulierte zum Geburtstag. Drei Monate später, im Flughafen von Bogotà, gab Andreas Yuly den ersten scheuen Kuss auf die Wange. Dann ging alles schnell.

«Ich sehnte mich nach Kolumbien, das ich vom Reisen gut kannte. Da dachte ich: Wenn ich schon nicht gehen kann, suche ich mir eben eine Bekanntschaft über Internet», erzählt Andreas. Yuly arbeitete viel und ging selten aus - eine Freundin hatte sie deshalb überredet, ihr Profil ins Internet zu stellen. Sie wurde mit Mails überschwemmt, doch es ergab sich nichts - bis jenes von Andreas kam. «Ich antwortete ihm, obwohl sein Foto schlecht war», erzählt sie und lacht. Sie sitzt auf dem sonnigen Balkon der Wohnung in Niederwangen, in die sie vor knapp vier Jahren - nur gerade 12 Tage nach dem ersten Treffen in Bogotà - mit dem ihr noch fremden und doch so nahen Mann gezogen war. Dem ersten Mail folgten täglich weitere, sie schickten sich Fotos, erzählten von Freunden und Familie. «Wir merkten schnell, dass da mehr war», sagt Yuly und sieht Andreas strahlend an. Wenn die beiden ihre Geschichte erzählen, so ist es, als erzählten sie ein Märchen. Etwas, das sich viele wünschen, aber nicht finden. Etwas, das viele nicht für möglich halten, aber trotzdem suchen: Die Liebe über Internet.

Der Boom der (virtuellen) Liebe

Die Partnersuche via Internet boomt, das Angebot für einsame Singles wird immer grösser. Es gibt auch Seiten für Teenies, solche für Betagte, für HIV-Positive, für Homosexuelle, für Leute, die nicht Liebe, sondern One-night-stands oder nur Freundschaften suchen. Laut Schätzungen der Anbieter besuchen täglich rund 200 000 Schweizer und Schweizerinnen Single-Börsen im Internet. Seit 2002 verdreifachten sich die Benutzerzahlen des Gratisportals singles.ch auf 30 000, Durchschnittsalter ist 34. Ähnliche Erfolge verzeichnen auch kostenpflichtige Anbieter wie swissfriends.ch.

Während die Hemmschwelle, sich im Internet den geeigneten Partner zu suchen, sinkt, steigt die Bereitschaft, mit der (virtuellen) Liebe zu spielen. Besonders Männer - sie machen drei Viertel der Anzeigen auf singles.ch aus - nutzten die Partnerbörsen oft aus, sagt Daniel Hauri, der singles.ch vor fünf Jahren gegründet hat: «Für viele Männer ist das Portal wie ein Weihnachtsbaum - sie wollen so viele Päckli wie möglich auspacken.» Auch «Spinner», die den Frauen unanständige Mails zuschickten, seien ein Problem: «Ein einziger Mann kann so hundert Frauen vom Netz vertreiben.»

Das Spiel mit der Liebe

«Viele Männer sehen das Ganze nur als Spiel und wollen gar keine feste Beziehung eingehen», sagt auch Claudia Meyer (Name geändert) aus Münsingen. Die Internetportale seien zwar eine gute Sache, denn man lerne schnell viele Leute kennen. «Vielleicht zu schnell», sagt sie. Ihr sei die Lust, die Liebe im Internet zu suchen, jedenfalls vergangen. Ein halbes Jahr lang hat sich die 27-Jährige nach der Auflösung ihrer langjährigen Beziehung auf Partnerbörsen registriert. Sie hatte immer wieder Dates, mit dem einen oder anderen Mann kam es zum Techtelmechtel. Es klappte jedoch nicht: «Entweder waren die Männer nicht mein Typ oder sie nahmen die Sache nicht ernst», sagt die Sachbearbeiterin. Die Erwartungen seien grösser als bei einem normalen Rendez-vous, «denn hier ist es beiden klar, worum es geht». Nach mehreren Enttäuschungen änderte Meyer die Strategie: Sie suche nun nach Freundschaften. Vielleicht lerne sie in einem neuen Freundeskreis eher einen Partner kennen als über die Suchkriterien im Internet. Denn: «Ich suchte Männer zwischen 25 und 35 Jahren. Vielleicht war der Richtige aber 36.»

Liebe lasse sich nicht über Datenbank-Kriterien steuern, sagt auch Jörg Eugster von swissfriends. ch, der grössten Dating-Seite der Schweiz. Trotzdem fänden viele Paare via Internet zueinander: Laut eigener Umfrage unter Swissfriends-Benutzern und Benutzerinnen waren es seit 2002 über 10 000 Paare, 800 haben geheiratet «und 547 Babys wurden dank Swissfriends geboren».

Die Tücke der Liebe

Auch bei Yuly und Andreas Kohli begann die Liebe mit dem virtuellen Spiel «Der gefällt mir, dieser nicht». Doch als Amors Pfeil am 26. Juli 2001 durchs Netz schoss, hat er die zwei getroffen. Für viele andere ging die Routinesuche am Computer mit den oft frustrierenden Blinddates weiter. Denn die Liebe ist tückisch. Auch im Internet.

[i] Die Liebe im Internet

findet sich auf folgenden Seiten (Liste unvollständig): singles.ch, swissfriends.ch, parship.ch, friendscout24.ch, partnerwinner.ch

Text: Manuela Ryter

Dieser Artikel erschien am 18. Juni 2005 im "Bund".​

Schönheitsputzete und Schmusestunde
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Tierisches Aufwachen an der BEA

Putzen, füttern, striegeln, streicheln - auf dem BEA-Gelände geht der Tag schon lange vor den ersten Besuchern los. Kühe werden gemolken, Rennschweine auf Trab gehalten - nur die Fohlen bleiben liegen.

Lilian, von edler Rasse - «Red Holstein», steht auf der Tafel über ihr -, macht grosse Augen, dreht den Kopf und schaut im BEA-Zelt umher, blinzelt und schnuppert am Stroh, in welches sie weich gebettet liegt. Gleichgültig schaut sie zu ihrer Nachbarin hinüber - es ist eine Simmentaler Fleckviehkuh - und gibt keinen Laut von sich. Es ist noch früh, die BEA-Hallen sind fast menschenleer, doch Lilian ist schon gemolken, gewaschen und gestriegelt, ihr Bauch ist gefüllt, das Stroh gewechselt. Lilian ist eine gemütliche Kuh. Und gemütliche Kühe kauen auch gemütlich vor sich hin, wenn sie herausgeputzt mit rund hundert Hinterwäldler Chälbli, Eringer Kampfkühen und Charolais-Rindern in einer Ausstellungshalle liegen, in Auslaufboxen oder, wie Lilian, schön in einer Reihe.

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Ganz so gemütlich nimmt es die Stallmannschaft zwei Stunden vor Türöffnung der BEA nicht, doch auch sie lässt sich nicht aus der Ruhe bringen. Gemächlich führen die Landwirte Neptun, Blümchen und Coletta nach draussen, duschen und schrubben sie, bis sie dampfen, während der Tierarzt seine Runden macht. Punkt 9 Uhr müssen die Tiere bereit sein für den Ansturm tierliebender Städter, fachsimpelnder Landwirte und kreischender Kinder, doch noch ist es still, ja fast bedächtig still in den Hallen. Nur aus der Ecke der Jungzüchter trällert leichte Popmusik.

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Die Musik sei zur Unterhaltung, sagt Adrian von Känel aus Aeschiried, während er das Melkgeschirr abspült. Und für die Kühe sei sie ein Signal, «dass es losgeht». Bereits um 4 Uhr werden die Tiere gemolken, damit sie um 16 Uhr für das grosse Schaumelken bereit sind. Das mache ihm nichts aus, sagt der 20-jährige von Känel - schliesslich sei es eine grosse Ehre, ja gar der Bubentraum eines jeden Landwirts, einmal BEA-Melker zu sein. Nicht nur Melken und Ausmisten - auch Streicheln gehöre zur morgendlichen Tätigkeit, sagt Tabea Kobel, denn «auch Kühe brauchen Zuneigung». Einige seien richtige «Hätschelis», sagt die junge Landwirtin, manche Tiere stellten sich ihr jeweils gar in den Weg, damit sie sie «chräbele».

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In der Pferdehalle ist der Betrieb lebhafter, es wird gewiehert und geschnaubt - nur die Fohlen liegen noch schläfrig im Stroh. Nicht so Darkys Reckless: Das schwarze «Füli» tollt sich übermütig aus - es werde mit jedem BEA-Tag frecher, sagt seine Besitzerin. Ein Fohlen leckt die letzten Flocken aus dem Futtertrog, während nebenan Flamenco wütend schnaubt: Tarifa, «seine» trächtige Stute, wurde kurz aus ihrer Box entführt, damit diese gereinigt werden kann. Das BEA-Gelände erwacht langsam, auch wenn die Wege zwischen den Hallen noch leer sind. Aussteller, Züchter und Brezelbäcker putzen ihre Stände, die Rennschweine werden auf Trab gehalten, und auch die wolligen Lamas stellen sich allmählich auf ihre Beine und knabbern am saftigen Gras.

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Die Uhr schlägt neun, und schon kommen Familien, ältere Ehepaare, pubertierende Jugendliche, Landwirte in Helly-Hansen-Jacken. Kinder mit roten Backen drängeln zu den Berner Sennenhunden, streicheln die Geissen, quetschen sich zu den rosaroten «Säuli» und kraulen sie hinter den Ohren, langen durch die Gitterstäbe zu den «Fülis», streicheln die Hasen im Gehege. Und als um 10 Uhr das Säulirennen losgeht, wird um freie Plätze gekämpft. Draussen hat sich das Areal gefüllt, das Riesenrad dreht seine Runden, es riecht nach Bratwurst und Magenbrot. Eine Hexe krächzt aus einem Lebkuchenstand und ein Werbe-Gemüseschnetzler schnetzelt Zwiebeln und Karotten. Hunderte Besucher warten am Eingang, drängeln und drücken.

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Lilian zerkaut indes ein neues Büschel Heu. Sie lässt sich mustern und bewundern, macht grosse Augen, kaut und blinzelt. Gleichgültiger als je zuvor.

Text: Manuela Ryter

Dieses Feature erschien am 6. Mai 2005 im "Bund".​